1526 - Mirandas Schutzengel
Service aus. Auch Elisa hatte noch bis vor einem Jahr in der Küche gestanden und ihr berühmtes Risotto zubereitet. Das Rezept hatte sie an Maria, Brunos Frau, weitergegeben. Sie schwang jetzt das Zepter in der Küche.
Miranda hatte der Toten das Kleid übergestreift und es ihr bis zum Hals zugeknöpft. Jetzt musste sie nur noch die Lage der Toten verändern. Sie wollte nicht, dass die Arme wie Stöcke an den Seiten des starren Körpers nach unten hingen.
Noch war die Totenstarre nicht eingetreten. Die Arme konnten bewegt werden, ebenso die Finger.
Schließlich lagen die Hände gefaltet auf der Brust der Toten. Als Letztes schloss Miranda ihrer Mutter die Augen. Mehr konnte sie nicht für sie tun.
Sie stand am Bett und schaute noch einmal in das starre Gesicht.
»Werde glücklich, wo du bist, Mama. Ich wünsche es dir. Du hast es verdient, dich von den Engeln tragen zu lassen, um die Glückseligkeit zu erlangen. Irgendwann sehen wir uns wieder…«
Nach diesen letzten Worten drehte sie sich um und ging mit langsamen Schritten zur Tür. Ihr Gesicht war starr. Die naturroten Lippen waren blass geworden, so hart lagen sie aufeinander.
Miranda spürte die Schwere ihres Körpers und auch die in ihrem Kopf.
Ihre Beine schienen mit Blei gefüllt zu sein, und sie hatte Mühe, die Füße anzuheben.
Sie wollte die Tür öffnen, denn sie musste den anderen Mitgliedern der Familie Bescheid geben. Sie wusste, dass ihr ein schwerer Gang bevorstand.
Es blieb beim Versuch, denn plötzlich geschah etwas, das sie aus ihren Gedanken riss und das sie nicht begriff.
»Willst du mich allein lassen, Kind?«
Fast hätte sie geschrien, denn sie kannte die Stimme, die in ihrem Rücken aufgeklungen war.
Sie gehörte ihrer toten Mutter!
***
In Momenten wie diesem war es für einen normalen Menschen unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen oder sich über irgendwelche Folgen klar zu werden. So erging es auch Miranda. Die Stimme!
Himmel, das war die Stimme ihrer verstorbenen Mutter gewesen!
Aber das konnte nicht sein. So etwas war unmöglich. Tote können nicht mehr sprechen, und Miranda tat nichts weiter, als stehen zu bleiben und die Hand auf die Klinke zu legen.
Stimmte das? Oder hatte sie sich geirrt?
Sie wartete ab und hoffte darauf, dass sich die Stimme wiederholte. Es konnte auch sein, dass der Stress für sie zu groß gewesen war und sie sich die Stimme nur eingebildet hatte.
Die Sekunden dehnten sich, und dann hörte sie erneut das Flüstern.
»Willst du wirklich weggehen?«
Miranda stöhnte auf. Sie schloss für einen Moment die Augen. Sie wollte nichts mehr hören und sehen. Sie war einfach wie vor den Kopf geschlagen. So etwas durfte es nicht geben. Nein, das konnte nicht sein.
Ihre Mutter war tot und…
»Komm her!«
Erneut erschrak die blonde Frau bis ins Mark. Sie hatte das Gefühl, einen Stich ins Herz bekommen zu haben. Die nahe Tür schwankte vor ihren Augen, und sie glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
War Elisa nicht tot? War sie nur scheintot? Hatte sie sich beim Betrachten der Leiche geirrt?
Ihr schoss so viel durch den Kopf, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Aber sie wusste, dass sie nicht die Nerven verlieren durfte. Sie durfte sich auf keinen Fall verrückt machen lassen und musste die Nerven bewahren.
Obwohl sie sich das vorgenommen hatte, fiel es ihr sehr schwer, sich umzudrehen. Doch da war etwas in ihrem Innern, das sie dazu zwang, und schließlich schaute Miranda auf die Tote im Bett, die ihre Haltung nicht verändert hatte.
Die Augen waren geschlossen, der Mund stand auch nicht offen. Wenn sie tatsächlich gesprochen hatte, dann hätte sie es mit geschlossenen Lippen tun müssen.
Und so etwas gab es nicht.
Aber wer hatte dann geredet?
»Bitte, mein Kind, komm - komm an mein Bett, ich muss dir etwas sagen.«
»O Gott, nein!«, stöhnte Miranda. Sie hatte die Botschaft gehört und dabei gesehen, dass sich Elisas Lippen nicht bewegt hatten. Und trotzdem war es ihre Stimme gewesen.
Miranda handelte wie unter Zwang. Sie selbst wollte eigentlich nicht gehen, doch es gab eine Kraft, die sie nach vorn auf das Totenbett zu trieb, neben dem sie stehen blieb.
Miranda war nie sehr gläubig gewesen. In der Kirche hatte man sie weniger gesehen, denn sie hatte immer wieder etwas vorgeschoben. Sie hatte sich in ihrem Alter auch nie Gedanken über den Tod gemacht und darüber, was noch folgen würde. Aber jetzt war sie mit ihm konfrontiert worden und mit etwas,
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