1531 - Dschungeltod
überlegte, ob sie weiter den Hang hoch laufen sollte. In der Höhe war der Wald weniger dicht. Dort gab es auch einige Höhlen im Gestein, doch in der Dunkelheit würden sie nur schwer zu finden sein. So gut wie unmöglich. Deshalb wollte sie hier den Rest der Nacht abwarten.
Da die Bäume über ihrem Kopf zusammenwuchsen und so ein dichtes Dach bildeten, sah sie den Himmel nicht.
Sie stellte sich hin. Etwas huschte über ihre nackten Füße hinweg und erschreckte sie. Trotzdem blieb sie auf der Stelle stehen, denn woanders war es nicht besser.
»Tabea…«
Die Frau erstarrte. Sie hatte den Ruf vernommen, sogar ihren Namen, der gerufen worden war. Aber war er das wirklich? Hatte sie sich nicht geirrt?
Ein kalter Schauer rieselte ihren Rücken hinab. Sie holte stockend Atem, und in ihrem Kopf verspürte sie scharfe Stiche. Sie vergaß ihren Zustand und die Einsamkeit und stellte sich die Frage, ob sie sich den Ruf nicht eingebildet hatte.
Würde er sich wiederholen?
Ja, jetzt war die Stimme erneut da.
»Tabea - Tabea…«
Sie musste zunächst mal schlucken, bevor sie in der Lage war, antworten zu können.
»Wer bist du?«
»Ich will dir helfen…«
»Und wieso?«
»Ich bin ganz nah. Möchtest du zu mir gehören?«
Es war eine Suggestivfrage, das wusste sie sehr genau. Aber blieb ihr eine andere Wahl?
Friss Vogel - oder stirb!
Das war der richtige Vergleich, mit dem sie sich abfinden musste. Und auch danach handeln.
»Wer bist du denn?«
»Frag nicht. Ich bin da, um dich unter meinen Schutz zu nehmen. Die Menschen haben dich verstoßen. Ich aber habe mir vorgenommen, dich aufzufangen.«
»Und was passiert dann?«
»Ich behüte dich. Ich mache dich gesund. Ich werde dafür sorgen, dass du dich rächen kannst.«
Es waren Worte, die ihre Wirkung auf Tabea nicht verfehlten. Und sie befand sich in einer Situation, in der sie nach jedem Strohhalm griff.
Etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig.
Sie drehte sich auf der Stelle, um die Person zu suchen, der die Stimme gehörte. Sie wusste nicht mal, ob ein weibliches oder männliches Wesen mit ihr gesprochen hatte.
Der Begriff Wesen war wichtig für sie. Es lebte hier im dichten Wald. Es konnte ein Mann sein, musste aber nicht. Es gab Geister, die sich den Menschen in der Regel nicht zeigten und nur in extremen Situationen erschienen, und eine solche war jetzt gegeben.
»Was soll ich denn tun?«
»Geh einfach vor.«
»Und dann?«
»Geh nur vor.«
Tabea Sanchez hob die Schultern. Genau in diesem Moment platzte wieder eines der verfluchten Geschwüre dicht unter ihrer rechten Brust.
Der beißende Schmerz ließ sie aufstöhnen. Es war ihr, als wäre Säure in die Wunde geträufelt worden. Sie krümmte sich, stöhnte, richtete sich wieder auf, schaute nach vorn - und sah etwas.
Ja, da gab es jemanden!
Er stand in der Dunkelheit, aber sie erkannte nur einen schwachen Umriss, mehr nicht. Diese Gestalt erinnerte sie an ein Waldgespenst oder an einen Geist, der sich auf den Weg gemacht hatte, um sie zu töten.
Aber wollte er das wirklich?
Sie konnte es kaum glauben. Wenn ihr jemand etwas Böses wollte, sprach er nicht mit einer solchen Stimme und benutzte auch nicht derartige Worte.
Der Umriss war grau, vielleicht ein wenig heller. Aber es war nicht zu erkennen, ob es sich bei der Gestalt um einen Menschen handelte.
Vielleicht hatte sich einer der Götter ihrer erbarmt und hatte seine Heimstatt verlassen, um sie zu umarmen?
»Komm, du wirst es nicht bereuen. Was bleibt dir sonst? Die Angst und die Flucht. Willst du das?«
»Nein.«
»Dann zögere nicht länger. Verlass dich auf mich. Ich bin dein Freund, ich bin deine Lust, ich bin deine Rache. Ich werde dich durch meine Kraft wieder gesund machen, und du wirst dich wieder ganz normal unter die Menschen begeben können.«
Tabea hatte sehr genau zugehört. Plötzlich war diese feindliche Umgebung zu einem kleinen Paradies geworden. Sie konnte es kaum begreifen. Sie hatte beinahe mit ihrem vorherigen Leben abgeschlossen, doch nun sah alles anders aus. Auch wenn sie sich in die Hand einer fremden Macht begeben musste, es war noch immer besser, als durch einen menschenfeindlichen Dschungel zu irren.
»Ja!«, sagte sie, und dabei klang ihre Stimme fest. »Ich gehe mit dir und ich vertraue dir…«
***
Immer wenn Rita vor ihren kleinen Altar trat, der neben ihrem Bett stand, fragte sie sich, ob es richtig gewesen war, Tabea aus dem Ort zu jagen.
Es lag jetzt eine Woche zurück, und die Bewohner,
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