1564 - Wenn die Toten sprechen
Letzte Worte oder Gedanken gab es von ihnen nicht, es waren nur ihre schrecklichen Schreie zu hören, bevor sie endgültig hinein in das andere Reich geglitten waren.
Auch Maria hörte die Schreie. Sie duckte sich, weil sie ihr fast körperlich wehtaten. Aber sie ging weiter, auch in dem Bewusstsein, dass sie nicht helfen konnte.
Diese Schreie waren der Abschluss, denn weitere Gräber gab es nicht.
Sie hatte sich der westlichen Grenze des Parks genähert. Dahinter lag die normale Welt, dort führte eine Straße entlang, auf der Autos fuhren und in denen Menschen saßen, die unterwegs waren, um zu ihren Arbeitsstellen zu gelangen.
Marias Rundgang war beendet. Es wurde Zeit für sie, dass sie den Friedhof verließ. Sie wollte sich wieder dorthin begeben, wo sie tagsüber hingehörte.
Der Weg war nicht weit. Das Haus stand zwar nicht einsam, aber es gab auch keine Nachbarschaft, und das hatten die Erbauer so gewollt, denn dieses Haus gehörte der Kirche. Es war so etwas wie eine Pension oder ein kleines Hotel, in dem Schulungen in einem begrenzten Kreis durchgeführt wurden.
Hier hatte Maria ihre Heimat gefunden. Hier war sie aufgenommen worden, und hier stellte man ihr keine Fragen. Man nahm sie so, wie sie war, mehr wollte sie nicht.
Am liebsten war ihr, wenn es keine anderen Gäste gab, und das war in diesen Tagen der Fall. Bis auf zwei Personen stand das Haus leer. Ein junges Ehepaar aus Deutschland hatte hier seine Unterkunft gefunden.
Mit beiden war Maria kaum in Kontakt gekommen.
Die Frau, die das Haus leitete, gehörte ebenfalls zur Kirche. Sie war sogar eine Pfarrerin, die allerdings keine Messen mehr las, weil das kleine Hotel zu viel Zeit in Anspruch nahm.
Noch mit den Stimmen der Toten im Kopf verließ Maria das Gelände. Sie musste eine kleine Straße entlanggehen und dann einen kleinen und flachen Hügel hochsteigen, um das Haus zu erreichen, in dem sie Zuflucht gefunden hatte.
Dort würde sie meditieren und in sich selbst versinken. Vielleicht war es ihr wieder möglich, sich zu öffnen, um so durch ihren Einsatz helfen zu können.
Maria wusste sehr gut, dass sie sich nicht als einen normalen Menschen bezeichnen konnte. Sie war anders. Man hatte ihr Kräfte mit auf den Weg gegeben, die unerklärlich waren, aber auf die konnte sie sich verlassen.
Die Nebelschleier waren noch immer vorhanden, und sie würden auch nicht so schnell weichen.
Das machte ihr nichts aus, denn sie würde ins Haus gehen und sich auf ihr Zimmer zurückziehen. Man hatte ihr einen Schlüssel für den Hintereingang gegeben, denn sie wollte von den anderen Gästen nicht unbedingt gesehen werden.
Es störte sie niemand, als sie den flachen Hügel hoch schritt. Die Verkehrsgeräusche waren zwar vorhanden, aber der Nebel sorgte für eine gewisse Dämpfung.
Das Haus befand sich inmitten einer mit Bäumen bestandenen Fläche.
Ein Weg führte dorthin, der breit genug war, um auch befahren werden zu können. Doch den nahm Maria nicht. Sie passierte das Haus an der Seite und bewegte sich auf den Hintereingang zu.
Den Schlüssel hielt sie bereits in der Hand. Sie öffnete eine Tür, zog sie hinter sich wieder zu und schaltete das Licht ein, das sich trübe in einem Treppenhaus ausbreitete und von rötlichen Fliesen reflektiert wurde.
Keine Gäste bis auf zwei. Es war eine nächtliche Ruhe zwischen den Wänden, obwohl der Tag bereits begonnen hatte.
Eine Treppe führte in die Etage hoch, wo ihr Zimmer lag. Da lebte Maria ganz am Ende des Ganges in einer kleinen Kammer. Wenn sie ins Bad wollte, musste sie auf den Gang. Da gab es eine Dusche für das Personal.
Vor der Treppe stoppte sie. Den Grund kannte sie selbst nicht. Es konnte an der Atmosphäre liegen, die sich hier ausgebreitet hatte.
Vielleicht an der Stille. Nichts war zu hören, keine Geräusche. Keine Schritte, auch kein Klappern von Geschirr. Normalerweise war Edith Butler schon auf den Beinen und kümmerte sich um das Frühstück.
An diesem Morgen war nichts zu hören.
Warum nicht?
Maria war keine Hellseherin, aber sie konnte sich auf ihre Gefühle verlassen, und deshalb ging sie nicht die Stufen der Treppe hoch, sondern blieb auf dieser Ebene. Sie betrat den Flur, der direkt hinter der Eingangstür lag. Von dort aus waren es nur ein paar Schritte bis zum Büro der Chefin.
Edith Butler, die ehemalige Pfarrerin, lebte und arbeitete in diesem Bereich. Hier gab es auch das große Zimmer, in dem die Seminare stattfanden, es war ein Büro vorhanden und ebenfalls
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