1596 - Abgrund der Zeit
Selbsttäuschung?
Er starrte an der Projektion vorbei auf die Uhren, die sein Zimmer säumten und den Korridor draußen bevölkerten. Er beobachtete die Pendel und verfolgte, wie sie immer schneller hin und her schwangen. Sie gerieten in einen hektischen Tanz voller Gleichheit und Gegenbewegung, und seine Augäpfel begannen zu schmerzen, weil sie diese Bewegungen motorisch nicht mehr verkrafteten.
Noch immer erfüllte ihn die Schwerelosigkeit in seinem Sessel. Gequält stöhnte er auf. Die Stümpfe seiner Beine begannen stark zu schmerzen, und seine Augen begannen zu tränen. „Nein", kam es ihm über die Lippen. „Warum muß das sein? Ich hatte noch nie Probleme mit meinen Beinen."
Im gleichen Augenblick wußte er, daß es nicht stimmte. Früher hatte er viel auf der Langlaufbahn trainiert, um seinen Körper zu stählen und gegen seine Schwächlichkeit anzukämpfen. Es war auf seine Gelenke gegangen. Eine ganze Weile hatte er Probleme mit den Knien gehabt. Vielleicht hätte er sie noch, wenn der Attentäter ihm die Beine nicht weggeschossen hätte.
Die Uhrenpendel rasten hin und her, das Ticken wurde zu einem rasenden Stakkato. Hastig stellte er eine Frage an den Haussyntron und erfuhr, daß nichts von außerhalb einwirkte, keine fremde Kraft, überhaupt kein Einfluß. „Nein", ächzte Myles. „Anhalten!"
Die Projektion der Wandereruhr bewegte sich im gewohnten Tempo und machte ihn darauf aufmerksam, daß es diesmal anders war. Es hing nicht mit der Verlangsamung seiner Körperfunktionen zusammen. Etwas anderes ereignete sich, und in seinem Bewußtsein entstand das Bild eines ungemein schnell dahinrasenden Objekts.
Du versuchst, die Zeit einzuholen, die bei ES inzwischen vergangen ist, redete er sich ein, ohne zu erkennen, wie wahr diese Erkenntnis war. Du darfst es nicht. Bleibe in deiner Zeit. Werde nicht zu einem, für den die 20 000 Jahre ebenfalls schon vergangen sind.
Er vermißte sein Kantormobil. Es war plötzlich nicht mehr vorhanden, und er hing zwischen den halb durchsichtigen Wänden eines Ganges, hinter dem sich die Uhren bewegten und immer schneller wurden, bis er die einzelnen Bewegungen der Pendel und Zeiger nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Er begann auf die Zeitlosigkeit zuzustürzen und versuchte mit aller Willenskraft, diesen Vorgang aufzuhalten. Der Schmerz in seinen Beinstümpfen nahm weiter zu und ließ ihm am ganzen Körper den Schweiß ausbrechen. Gleichzeitig versuchte er sich irgendwo festzuklammern, aber da war nichts. Er rief nach seinem Kantormobil, doch es existierte nicht.
Myles Kantor fiel in einen schier endlosen Schacht und wußte nicht, ob er nach oben oder unten stürzte. Er schrie und streckte die Arme in Richtung der Gestalt aus, die am Rand des Schachtes hing und ihn grüßte. Sie mußte sich mit fast derselben Geschwindigkeit fortbewegen wie er, denn er kam ihr nur langsam näher. Eine Aura aus hellem Licht umgab sie, und er erkannte, wer es war. „Hilf mir", flehte er. „Ich bin sonst verloren."
„Keine Angst", antwortete der andere. „Bei mir bist du gut aufgehoben."
Ein schwarzer Vorhang legte sich über das Bewußtsein des jungen Wissenschaftlers, und als er wieder klar sehen konnte, spürte er Wärme, die ihn umgab. Kräftige Arme hielten ihn, und eine angenehme Stimme redete leise auf ihn ein. „Du bist nicht in Gefahr. Ich beschütze dich. Vertraue einem alten Freund."
Myles sah Ernst Ellert dankbar an, und Ellert lächelte ihm zu und trug ihn durch eine weite Ebene, die von gelben und roten Blumen übersät war. „Ich vertraue dir", sagte er. „Aber viel lieber wäre mir, wenn du mich nach Hause bringen würdest.
Wo sind wir hier?"
„Ahnst du es nicht? Wir sind auf Wanderer. Dies ist dein Zuhause, Myles Kantor!"
Myles schluckte und riß die Augen auf. „Ich ... will... nicht", stammelte er. „Laß mich runter."
Ernst Ellert öffnete die Arme, und Myles Kantor stürzte zu Boden und fiel durch ihn hindurch ins Nichts. Er ruderte wild mit den Armen und erhielt einen, elektrischen Schlag. Eine Stimme sagte: „Du darfst nicht in das energetische Schutzfeld greifen."
Sein Blick klärte sich, und er begriff, daß er noch immer in dem Formenergiesessel vor seiner Uhr saß. Sie leuchtete gleichmäßig, und Wanderer veränderte seine Position erneut um eine Winzigkeit, gemessen an den Ausmaßen der Holoprojektion.
Eine Weile atmete er tief und gleichmäßig durch. Dann griff er nach einem Projektionsstab und hob die Wandereruhr von
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