1610 01 - Der letzte Alchimist
orientieren.
Zwei Männer zu Pferd brachen zwischen den Gräbern hinter mir hervor: de Vernyes und ein weiterer Reiter des Königs.
Sofort trennten sie sich, um mir den Weg abzuschneiden. Hinter mir hörte ich nun ein großes Heulen auf den Straßen. Die Nachricht von dem Attentat verbreitete sich rasch von der Rue de la Ferronnerie in alle Richtungen.
»Da ist Sullys Mann!«, rief de Vernyes Kamerad, ein junger, kräftiger Mann in einem ausgesprochen modischen Wams und Rüschenkragen, aber mit dem Leib eines Straßenschlägers. In der Hand, mit der er die Zügel führte, hielt er ein Rapier, und aus seinem Gürtel ragte unverkennbar der Griff einer Pistole.
De Vernyes selbst zügelte sein Pferd und starrte mich über seine Klinge hinweg an. »Ihr seid verhaftet! Werft Euer Schwert beiseite! Sofort!«
Meine Hände waren instinktiv zu meinen Waffen gewandert, und ich hatte Rapier und Dolch gezogen. Rasch wich ich zurück und drehte mich dabei so, dass ich nicht auf den schmalen Wegen zwischen den Gräbern in die Falle geraten konnte. »Ich? Warum bin ich verhaftet?«
De Vernyes Kamerad brüllte mich nieder. »Ihr wart bei ihm, Mörder!«
Dieser zweite Reiter hatte Schwierigkeiten, sein Pferd zwischen den engstehenden Grabmälern hindurchzumanövrieren. In dem Augenblick, da er versuchte, die Pistole aus dem Gürtel zu bekommen, sprang ich auf eines der flacheren Gräber, sodass ich mich auf einer Höhe mit ihm befand, und rammte ihm das Rapier unmittelbar unter dem Arm in die Brust, bis sechs Zoll feuchten Stahls aus seinen Rippen ragten.
»Bazanez!«, schrie de Vernyes nach seinem Freund und verfluchte mich. Sein Pferd kurbettierte, Hufe schlugen auf das Pflaster, und das Zaumzeug klirrte. Plötzlich ließ er die Zügel fallen, befreite sich von den Steigbügeln und glitt aus dem Sattel, ohne die Hände zu benutzen, die bereits auf Rapier und Dolch lagen.
Ich verstärkte den Griff um mein Rapier, drehte es und zog es aus Bazanez Brust.
Am Rand des Friedhofs drehten sich Köpfe in unsere Richtung.
De Vernyes' Wangen waren gerötet. Er sah aus, als wünsche er sich, dass nicht ausgerechnet ich es gewesen wäre, gegen den er antreten musste.
»Gebt auf, Rochefort! Ihr werdet auch als toter Zeuge noch genauso laut reden wie als lebender.«
»Das ist nicht ganz wahr«, erwiderte ich grimmig, »wie Ihr herausfinden würdet, wenn Ihr die Männer um uns herum befragt.«
Mit Schädeln verzierte Steine standen im hellen Licht des Tages: in Stein gehauene Kiefer, Oberschenkel und Sanduhren zusammen mit verwitterten Namen. Die einzigen Männer um uns herum waren Tote, doch es würde nicht lange dauern, bis auch Lebende hier erschienen.
»Ein wirklich passender Ort, sollte ich verlieren«, bemerkte ich und sprang mit einem fast hysterischen Lachen vom Grabstein herunter. Wie hat es nur so weit kommen können?
Vielleicht war es die Verwirrung als Folge des Attentats, vielleicht glaubten die Menschen aber auch nur, wir seien in ein gewöhnliches Duell verstrickt, in jedem Fall kam niemand zu uns auf den Friedhof. Ich sah, wie de Vernyes zur Straße blickte und überlegte, ob er nach Hilfe rufen sollte, sich dann jedoch anders entschied.
Mit einer Ungeduld, die ich nicht genau einordnen konnte, erkannte ich, dass der Narr ohne weiteres jeden Fuß- oder Reitersoldaten hätte herbeirufen können, der noch in der Nähe war – obwohl diese vermutlich längst mit der Kutsche verschwunden waren –, oder aber das Volk von Paris. Stattdessen zog er es jedoch vor, das Ganze als Duell auszufechten. Er wollte die ›größere Ehre‹ für sich, mich allein bezwungen zu haben.
»Es gibt keinen Grund für mich, Euch zu töten.« Ich drehte de Vernyes die Schulter zu. »Das wäre Verschwendung.«
»Merde !«
Duelle sind weit verbreitet. Ich selbst hatte oft genug an einem teilgenommen, obwohl es mein Herr, der Herzog, gewesen war, welcher im Jahre 1602 ein Edikt erlassen hatte, das Duelle für illegal erklärte. Laut Gesetz hätte man de Vernyes und mich jetzt hängen und unseren Besitz konfiszieren können – auch wenn das diesen reichen Spross des Adels ohne Zweifel mehr getroffen hätte als mich.
Heinrich wird ihn begnadigen, sinnierte ich – und plötzlich fiel mir wieder entsetzt ein, dass Heinrich vermutlich im Sterben lag. Der König hat Duellanten und Ehrenmännern im Durchschnitt einmal pro Tag seine Gnade gewährt – ich selbst hatte schon mehrmals Grund gehabt, dankbar dafür zu sein, auch wenn Sully geknurrt
Weitere Kostenlose Bücher