1610 01 - Der letzte Alchimist
der Laterne sah ich, dass die Tinte nicht verlaufen, sondern nur leicht in das Papier eingesickert war. Alles – ich blickte auf Stapel über Stapel, höher als die Frau und bis zum Ende der Höhle aufgetürmt – war voller seltsamer Zeichen, Buchstaben, Gleichungen und Diagramme.
»Hier bist du.« Sie hielt mir ein unauffälliges Stück Papier entgegen. »Ich verwende Nolans Methode, wie du sehen wirst. Und das da ist mein eigener Beweis für die Gleichungen Brunos. Ich warte nun schon seit zehn Jahren auf dich und länger.«
»Aber natürlich.« Ich nickte instinktiv und seufzte. Sicher, in der Ecke fand sich eine Liegestatt mit Decken, die immer und immer wieder geflickt worden waren, aber ob sie nun zehn Jahre oder wenige Nächte darauf geschlafen hatte, war nicht ersichtlich. Vielleicht war die Ecke sogar erst heute Morgen so ausstaffiert worden.
Ich stellte die Laterne ab und packte die alte Frau unterm Kinn, Finger und Daumen zu beiden Seiten der Kehle. Sie kratzte über meinen Handschuh. Ich hob sie auf die Zehen hoch und das kraftvoll genug, dass ihre verbliebenen Zähne aufeinander schlugen.
Aus solcher Nähe stank sie abartig. Ich schaute in ihre weiß umrandeten Augen. »Ich muss nur meine Hand schließen, und du hörst auf zu atmen. Ich nehme jedoch an, dass du leben willst. Das wollen die meisten Menschen. Sag mir, wer du bist, warum du hier bist, und wer dir meinen Namen verraten hat.«
Ihr Blick strahlte förmlich vor Wärme. Mut und Gelassenheit sind aus solcher Nähe schwer vorzutäuschen. Ihr Puls fühlte sich unter meiner Hand ein wenig schnell an, aber nicht schneller, als man mit Erschöpfung hätte erklären können.
»Wer bist du?«, verlangte ich zu wissen.
»Suor Caterina, geborene Elena Zorzi aus dem Véneto. Ich bin nicht weit entfernt von Padua zur Welt gekommen, aber den größten Teil meines Lebens habe ich in Venedig verbracht.«
Ich hatte nicht erwartet, dass sie mir so schnell antworten würde. » Was bist du?«
»Ich bin eine Schwester vom Orden der Karmeliterinnen.« Falten zogen sich um ihren Mund zusammen, wenn sie die Lippen schürzte. »Ich will dich nicht anlügen, Valentin. Die Karmeliterinnen haben mich ausgeschlossen. Aber ich betrachte mich noch immer als Braut Christi.«
Die Würde in ihren Worten passte nicht zu ihren stinkenden Kleidern, ihrem halbnackten Auftreten und ihrem verfilzten Haar. Ich verstärkte meinen Griff noch ein wenig und zog sie ein weiteres Stück in die Höhe.
»Wer hat dich hergeschickt? Wer hat dir von mir erzählt?«
Tränen wie feuchte Schneckenspuren umrahmten ihre Augen. Sie klang atemlos – was auch nicht verwunderlich war mit meiner Hand um ihren Hals.
»Niemand hat mich geschickt, es sei denn, du sprichst von Gott. Es ist schon lange her! Ich habe diesen Ort gefunden und gewartet. Es ist alles wahr, denn du bist hier!«
Sie schaute mich mit Augen an, die – das schwöre ich – im Laternenlicht glühten. Ich bemerkte, dass ich meinen Griff gelockert hatte, und die alte Frau fand wieder Halt auf dem sandigen Untergrund.
»Valentin Rochefort!« Sie musterte mich auf eine Art von Kopf bis Fuß, die mich seltsam verunsicherte. »Ich habe nicht gewusst, dass du so groß sein würdest – oder so stark. Dass du ein fähiger Fechter bist, habe ich jedoch vermutet. Ich habe errechnet, dass du ein Soldat sein würdest – das steht alles auf den Seiten da drüben. Ostrega ! Und ein tapferer und kluger Mann. Du bist nicht vor der Hexe weggelaufen; du hast sie gesucht. Es ist so eine Freude, und ich bin so erleichtert, und … bitte, verzeih … das ist ein Wunder!«
Einen Augenblick lang sah ihr uraltes Gesicht wie das eines Kindes aus; eines kleinen Kindes, dem man ein Geschenk zum Namenstag gegeben hatte.
»Ich bin es nicht gewohnt, auf diese Art gemustert zu werden«, bemerkte ich und war kurz ein wenig unentschlossen. »Warum scheint mich jeder Mann – und inzwischen jede Frau! – für irgendeinen Schurken oder Helden zu halten, den das Schicksal ihm gebracht hat?«
Sie lächelte mich fröhlich an. »Aber nein! Da ist nichts Besonderes an dir, Valentin. Du bist ein ganz gewöhnlicher Mann. Du bist nur zu einer entscheidenden Zeit an einem nützlichen Ort. Das macht dich zu einem Wunder!«
Ich muss gestehen, dass mich das ein wenig ernüchterte.
»Das Schicksal hat mich also nicht auserwählt?«
»Nun, du bist jedenfalls nicht die zweite Jungfrau Frankreichs.« Sie musste sich sichtlich beherrschen, nicht zu lachen. »Ich
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