1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
aufgeben! Despoten, Kriegsherren, Diktatoren … Nie werden die einfachen Menschen in Freiheit leben.«
»Könige sind ein notwendiges Übel«, erklärte ich. Ein Insekt summte an uns vorbei und in den Wald. Weit entfernt hörte ich einen einfachen Menschen Holz hacken. An einem sonnendurchfluteten Tag im Mai über die Apokalypse zu diskutieren … Kein Wunder, dass sie darüber verrückt geworden ist.
Da sie eine Frau der Kirche und ein Doktor der Astrologie war, versuchte ich es mit folgender Logik: »Madame, sowohl Ihr als auch Doktor Fludd redet von Gott … Warum überlasst Ihr nicht alles ihm? Oder dem Schicksal, das in den Sternen geschrieben steht?«
»Ihr meint, was würde geschehen, wenn Roberto und ich den Dingen ihren Lauf lassen würden?« Sie drehte das Gesicht in die Sonne. Sie schloss die Augen, und Schatten erschienen in ihren tiefen Falten. Ohne die Augen wieder zu öffnen, sagte sie: »Es würde in ganz Europa Krieg geben, angefangen nächstes Jahr. Ein weiterer Hundertjähriger Krieg, doch diesmal zwischen Frankreich und Spanien. In England würde in spätestens fünf Jahren ein Bürgerkrieg ausbrechen, der über Generationen andauert. Und das wird den Fortschritt aufhalten. Zivilisation gedeiht nicht auf armseligen Bauernhöfen.« Sie sprach mit der Verachtung einer Italienerin für den Norden. »Zwei-, dreihundert Jahre würde diese Stagnation andauern. Und wenn der Komet dann kommt, wo sind wir dann?«
Sie riss die Augen wieder auf, und ich sah, wie klar diese waren, nicht verschleiert wie oft bei alten Frauen.
»Der Londoner Meister fürchtet den Kometen vor allem anderen. Er hat errechnet, dass die Welt in Feuer untergeht. Er wird alles tun, um die Menschheit an einen Punkt zu führen, wo sie sich mit ihrer Wissenschaft und ihren Maschinen davor schützen kann.«
»Vor einem Kometen, der ein böses Omen ist? Das ist wahrlich bewundernswert.«
Sie wedelte mit dem Finger vor meinem Gesicht. »Spottet nicht! Cazzo !«
Ich habe schon schlimmere Worte aus dem Mund einer Frau gehört, doch nicht von einer Nonne. Ich setzte mich gerade auf … und erkannte dann, dass ich eine beachtliche Summe darauf verwettet hätte, dass sie einst Lehrerin gewesen war.
»Signora, ich entschuldige mich.«
»Aber Ihr wisst nicht warum!«
Sie atmete tief durch. Sie hat wirklich Angst, dachte ich.
»Brunos Gleichungen sind noch nicht perfekt. Auf eine Spanne von fünfhundert Jahren vermag man nur die größten und verheerendsten Ereignisse zu erkennen. Aus diesem Grund können zwei Leute bei ihren Berechnungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, auch was die Natur der Katastrophe an sich betrifft. Valentin, ich habe das Ende der Welt gesehen – aber durch die Hand der Menschen, durch furchtbare Waffen. Dieses Feuer kommt noch vor dem Kometen. Roberto glaubt, wir würden durch die Hand Gottes ausgelöscht werden. Ich glaube, wenn dieser Komet kommt, werden wir mit Leichtigkeit mit ihm fertig werden – vorausgesetzt, wir überleben bis dahin! Plautus hat es bereits gesagt: Homo homini lupus – ›Der Mensch ist des Menschen Wolf‹!«
»Und was genau würdet Ihr tun, Signora?«
Sie lächelte mit ihren gelben Zahnstummeln. »Roberto will Könige auf den Thronen der Welt sehen, weil ein Mann, der die alleinige Macht hat, die Dinge leichter kontrollieren kann – glaubt er. Ich … Valentin, ich sehe eine Welt ganz ohne Könige.«
Ich sah vielleicht ein wenig überrascht aus. Jedenfalls legte sie ihre kleine Hand auf meine weit größere.
»Wenn hier in England der Bürgerkrieg ausbricht, werden die Menschen wieder debattieren: ›Als Adam erschaffen und Eva aus seiner Rippe entsprungen ist, wer war da der Edelmann?‹ Es wird ein Parlament einfacher Männer in der Armee geben. Die Generäle werden es niederschlagen. Doch wenn dieser Bürgerkrieg lange genug hinausgezögert werden kann, werden Männer herangewachsen sein, die noch nicht geboren sind, Männer für diese Debatten und diese Armee. Und sie wird man nicht mehr unterdrücken. Sie werden eine Gesellschaft aufbauen, in der es keine Armen mehr gibt, weil das Land und sämtlicher Besitz allen gehört, und kein Mann wird mehr in Kriegen kämpfen müssen, denn es gibt keinen König mehr, der ihn in die Schlacht schicken könnte.«
Ich glaube nicht, dass die Befehle von Königen das Einzige sind, was Männer dazu bewegt, in die Schlacht zu ziehen. Ich bemerkte jedoch nichts dergleichen, sondern hob nur die Augenbrauen und sagte:
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