1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
würde.«
»Nur wenige Menschen lesen die Zukunft.«
Sie klang ein wenig verschmitzt. Ich verkürzte meinen Schritt, um sie nicht zu überholen. Halb im Scherz sagte ich: »Aber Ihr schon … und Monsieur Fludd. Oder folgt Ihr nur einer anderen Methode der Astrologie als er?«
»Etwas werdet Ihr schon von dem Londoner Meister gehört haben, doch das ist die Wahrheit.« Sie bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit über den unebenen Fels. »Die Art der Berechnungen wurde in den achtziger Jahren von Giordano Bruno, dem Nolan, und seinen Studenten entwickelt. Ich war schon einige Jahre seine Anhängerin, bevor sie ihn einsperrten. Das war im Jahre 1592 in Venedig …«
Dunkelheit erstreckte sich vor uns, bis ich Licht reflektiert sah und wusste, dass Wasser in der Nähe war.
»Die Methode war hoch entwickelt.« Die alte Frau wurde nicht langsamer und ging in das Wasser hinein. »Die Gleichungen förderten bessere Ergebnisse für die Zukunft in hundert Jahren zutage als für die Gegenwart, dennoch konnten auch einige gegenwärtige Ereignisse berechnet werden …«
Ich trat an den Rand des Wassers, während ihre Stimme immer leiser wurde, und hob die Laterne. Unter der Wasseroberfläche glitzerten Kristallzapfen. Der Tümpel oder Fluss erstreckte sich bis ins Dunkel hinein. Caterinas Rücken verschwand vor mir in der Dunkelheit. Sie bewegte sich nun langsamer. Ich vermutete, dass die Wassertiefe zunahm. Falls das wirklich der River Axe war, empfand ich die Aussicht auf starke Strömungen und mit Wasser gefüllte Höhlen tief unter uns keineswegs verlockend.
»Ich nehme doch an, dass Ihr uns nicht ersäufen wollt, Signora, oder?« Vorsichtig trat ich ins Wasser und spürte die Kälte selbst durch das Leder meiner Stiefel.
Caterinas Lachen hallte aus der Dunkelheit zu mir herüber. »Fühlt unter die Wasseroberfläche. Da ist ein Seil, um Euch zu führen. Ich brauche es nicht mehr. Ich bin schon sehr lange hier.«
Ich steckte mein Rapier fort und hob die Laterne, um mir ein letztes Mal das Ufer einzuprägen. Das Licht enthüllte mir schwarze und rote Flecken auf der Höhlenwand, von denen ein paar zufälligerweise die Form von Tieren hatten. Mit der freien Hand griff ich unter die stille Wasseroberfläche. Ich fand ein straffes Seil. Unter Wasser verankert, außer Sicht. Sie ist misstrauisch und das vielleicht zu Recht.
Innerhalb weniger Augenblicke fiel das Licht nur noch auf das Wasser.
Die Höhlenwände befanden sich außerhalb der Reichweite der Laterne. Vorsichtig rutschte ich mit den Stiefeln über den felsigen Untergrund. Trotz der Sicherheit des Führungsseils – das eiskalt war, als ich es aus dem Wasser holte – war mir bewusst, wie leicht ein Mann hier die Orientierung verlieren konnte.
»Die Nolanformel«, sagte Caterina. Ihre Stimme war ein Flüstern vor mir in der Dunkelheit. »Es ist mein Verdienst, eine Möglichkeit gefunden zu haben, wie man sie auf die nächsten Tage anwenden kann. Robert Fludd, den Meister Bruno in England kennen gelernt hatte, hat sie verfeinert, um noch weiter zu sehen: vier, fünf Jahrhunderte voraus.«
Ihre Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit. Sie wartete auf mich. Sie drehte den Kopf und blickte zurück. »Unsere erste Aufgabe war es, die Hinrichtung von Meister Bruno durch die Kirche zu verhindern: Neun Jahre lang haben wir es geschafft. Dann sind wir gescheitert.«
»Wenn Ihr die Zukunft kanntet, wie konntet Ihr da scheitern?«
Ich erwartete Fludds Antwort von ihr: Ein Mann kann alles wissen, aber nicht alles tun.
Sie nickte und lächelte wie ein Lehrer einen Jungen anlächelt, der eine kluge Frage gestellt hat. Sie ging neben mir her und musste dabei sichtlich gegen das Wasser ankämpfen, das ihr bis zur Hüfte reichte.
»Brunos Formel verrät nur, was geschehen kann. Die mathematischen Gleichungen beschäftigen sich mit dem, was wahrscheinlich ist, weniger wahrscheinlich und geradezu unmöglich. Wenn ich etwas nahezu Unmögliches will, kann ich berechnen, was für eine Folge außergewöhnlicher Ereignisse zunächst geschehen muss, bevor es so weit ist. Erst dann können solche Ereignisse durch das Handeln der Menschen herbeigeführt werden.«
Die Kälte des Wassers machte meine Beine von den Knien abwärts taub. Ich wusste nicht, ob das wirklich nur an der Kälte lag, oder ob die Nähte meiner Stiefel undicht waren. Dann dämmerte mir die volle Bedeutung dessen, was Caterina gesagt hatte. »Ich hätte vermeiden können, was Fludd für mich
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