1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
welche Vorstellung mir in diesem Augenblick die größte Pein bereitete: kastriert zu werden oder meinen Samen vor ihm zu vergießen.
Die größte Demütigung war, dass wir nahe genug standen, um einander zu berühren. Seine Brust hob und senkte sich in schneller Folge, und ich konnte sie fast spüren. Ich hätte ihn mit bloßen Händen angreifen und niederstrecken können. Natürlich konnte der Dolch mich schneiden, oder schlimmer noch eine Hauptschlagader im Bein verletzen. Aber wie auch immer: Meine Aussichten zu überleben standen gar nicht mal schlecht.
Aber du wirst das nicht tun, sagte ich mir selbst, während ich dem Jungen in die Augen schaute. Meine Knie waren weich, und mein Magen drehte sich. Hätte es mich gekümmert, hätte ich mir vielleicht eingestanden, dass ich nicht mehr die Nerven hatte, diesen jungen Mann anzugreifen – dass die widerwärtige Reaktion meines Körpers mich in derartige Verwirrung gestürzt hatte, dass ich nur noch rennen wollte, kämpfen jedenfalls nicht.
Ich dachte nicht mehr an das Attentat, nicht an Gabriel und nicht mehr an die Medici oder den Herzog. Allein die Vorstellung, gezwungen zu werden, vor diesem Jungen auf die Knie zu sinken … Mir lief ein Schauder über den ganzen Leib.
»Ich muss gehen«, wiederholte ich und hatte dabei den größten Erfolg meines Lebens: Mein Tonfall vermittelte nicht den geringsten Eindruck von Flehen. »Es geht um Staatsangelegenheiten. Ich werde das … Ich werde das später mit Euch zu Ende bringen. Dessen könnt Ihr sicher sein.«
Der junge Mann hob den Blick. Einen Augenblick lang sah er so verträumt aus wie zuvor, dann verhärtete sich sein Gesicht wieder, als er sich offenbar konzentrierte.
»Der König ist wirklich tot? Und Ihr habt das gesehen? Ihr wart dort?«
Ich nickte bedächtig. Es ist schwer, vor einem Jungen die Würde zu bewahren, wenn man zitternd und mit offener Hose vor ihm steht.
»Und warum wollt Ihr weg?«
»Sully.«
Das war die einfachste Antwort – und sogar die Wahrheit –, nur dass Dariole glauben musste, ich handele auf Befehl des Herzogs.
Langsam schüttelte er den Kopf.
»Ich denke, ich glaube Euch. Dass Heinrich tot ist, meine ich. Ihr seht … Aber dann würdet Ihr nicht gehen. Der Herzog würde Euch brauchen. Es sei denn, er hat etwas damit zu tun. Oder Ihr. Und er ist des Königs Freund.«
»Messire Dariole …«
Er trat einen Schritt zurück, das Messer noch immer auf mich gerichtet und neigte den Kopf zur Seite. Im hereinfallenden Sonnenlicht sah sein dünner Schnurrbart aus wie ein Schmutzfleck. Ich sah deutlich, wann sein Verstand den entscheidenden Schritt machte.
»Ihr wisst, wer der Täter ist, nicht wahr? Und Ihr habt es Sully nicht gesagt? Sullys Schoßhund hat nicht … Und Ihr wollt weg?«
Kurz blickte er zu meinen Pferden, sehr kurz, wie ein Duellant, der seinen Gegnern nicht einen Herzschlag aus den Augen lässt. Dann schaute er mich aus zusammengekniffenen Augen an.
»Warum würdet Ihr es Sully nicht erzählen? Weil ihm die Antwort nicht gefallen würde? Oh, in Gottes Namen! Ihr wart es! Stimmt's? Wenn der König tot ist … Ihr habt es getan.«
An jedem anderen Tag hätte ich ihn umgebracht, während er von seinen Spekulationen abgelenkt war, oder ihn glauben gemacht, es sei alles nur Einbildung. Nun jedoch war meine Verwirrung so groß, dass ich nur heiser protestierte: »Ich habe Heinrich nicht umgebracht!«
»Nein? Aber Ihr habt etwas damit zu tun … Und Ihr seid Rochefort. Sullys Diener Rochefort …«
Wie in einem Albtraum sah ich den jungen Mann auf seiner Unterlippe kauen, die dunklen Augen auf mich gerichtet und das Gesicht unerwartet ernst. Wer hätte gedacht, dass Monsieur Dariole denken kann? Und noch dazu so schnell?
Er grinste böse.
»Man wird Fragen stellen. Nach Euch. Nach jedem, der mit Euch in Verbindung steht . Oh, ich verstehe. Ich verstehe, warum Ihr mich nicht töten wolltet, Messire. Ihr hättet diese Arbeit gerne den Folterknechten des Königs überlassen.«
Ich nehme an, dass ich ihn in diesem Augenblick angefunkelt habe. »Der König ist tot, Junge! Glaubst du etwa, ich hätte im Moment nichts Wichtigeres im Kopf als dich?«
Er lachte – ein unmännliches Geräusch, das mir in den Ohren wehtat. Er machte mit seiner freien Hand eine Bewegung und sagte: »Sattelt beide, Messire Rochefort.«
Ich starrte die stichelhaarige Stute an, dann den Falben und schließlich wieder Dariole. » Was?«
Monsieur Dariole warf mir einen sonnigen
Weitere Kostenlose Bücher