Kater Serano ermittelt 01 - Katzengold
Freitag
Um 14 Uhr 03 öffnete sich im vierten Stock eines Hauses in der Ossietzkystraße ein Fenster, und eine Katze flog heraus.
Sie landete unbeschadet auf den Bohlen eines Baugerüsts, schüttelte sich und preschte abwärts. Unten angekommen, schnüffelte sie eine Prise Mailuft. Dann wandte sie sich nach rechts und verließ mit steil erhobenem Schwanz ihr Revier.
Sie passierte eine Kirche, zwei Kinderwagen mit dazugehörigen Waden, drei Hundehaufen und wich im letzten Moment einem Fahrrad mit Anhänger aus, ehe sie an eine Straße gelangte, die nach den Geschwistern Scholl benannt war.
Die Katze dagegen war nach einer Kaiserin benannt: Aurelia. Sie wusste nicht, warum. Sie wusste auch nichts über Ossietzky oder die Standhaftigkeit der Scholl-Geschwister. Mit Aurelias Allgemeinbildung war es nicht weit her, was an ihrer Jugend, aber auch an einem gewissen Desinteresse menschlichen Themen gegenüber lag. Serrano, der Kater des Fleischers, wartete auf sie, das war alles, was zählte.
»Spinnst du?«, zischte Thekla. »Weißt du, wie spät es ist?«
Kommissar Hendrik Liebermann fand, dass man einen Menschen, den man einmal geliebt hatte, nicht so begrüßen sollte.
»Ich war beim Arzt.«
»Und der hat dich gezwungen, dein Handy auszuschalten, ja? Mein Zug geht in zwanzig Minuten! In ZWANZIG! Seit einer Stunde renne ich wie ein Tiger durch die Wohnung. Ich war kurz davor, meine Mutter anzurufen. Nur weil dir ausgerechnet heute eingefallen ist, zum Arzt zu gehen. Es gibt ein Wort, das dir bei der Polizei wahrscheinlich noch nie untergekommen ist. Willst du’s mal hören? Es heißt Verantwortung!«
»Entschuldige«, sagte Liebermann. »Aber jetzt bin ich ja da.« Thekla lief rot an. »Zwei Jahre!«, fauchte sie. »Und nichts gelernt.«
In der Tür zum Kinderzimmer erschien ihre Tochter. »Papa!« Ihr Schrei ging in einen Anlauf über, der in seinen Armen endete. Liebermann unterdrückte ein Stöhnen. »Hallo, Schatz, wie ...«
»Mir geht’s gut.«
»Schön«, sagte Liebermann und nahm sich vor, die Begrüßung seiner Tochter zukünftig etwas abwechslungsreicher zu gestalten. »Und hast du dir schon überlegt, was wir zwei in den nächsten Wochen alles anstellen?«
»Ich will zu Knut in den Zoo!«
»Knut?«
»Das ist ein Eisbär«, sagte Thekla.
»So. Na gut, gehen wir zu Knut. Und hinterher essen wir Eis!«
Thekla wurde eine Nuance dunkler.
»Ich hätte dich gern noch in den Haushalt eingeführt«, sagte sie frostig. »Aber ich muss los. Miri zeigt dir alles.«
Liebermanns Tochter strahlte.
»Ich hab ein wenig auf Vorrat gekauft«, fuhr Thekla fort. »Saft und Kartoffeln hauptsächlich. Sie sind im Keller, der Schlüssel hängt am Brett. Der blaue neben dem Autoschlüssel. Es wäre übrigens schön, wenn ich den Wagen bei meiner Rückkehr hier und nicht in irgendeiner Werkstatt finden würde.«
»Das war ein Auffahrunfall«, sagte Liebermann. »Und der Typ hinter mir ein Idiot.«
Thekla zuckte die Achseln. »Wenn ich mich richtig erinnere, befindet sich so gut wie jeder hinter dir, und alle sind Idioten. Manche finden sich damit ab, andere nicht. Was hast du eigentlich?« Sie schlüpfte in einen leichten Mantel. Liebermann bemerkte, dass sie schlanker geworden war. Er überlegte, ob er es ihr sagen sollte. Aber da er die Folgen eines solchen Kompliments nicht abzuschätzen vermochte, murmelte er: »Bandscheibe.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Schlimm?«
»Es wird wieder. Ich bin zwei Wochen krankgeschrieben.«
Thekla hielt im Knöpfen inne. »Du warst noch nie krankgeschrieben.«
»Nein.«
»Dann ist es schlimm. Und ausgerechnet jetzt.«
»Ich habe mehr Zeit für Miri«, sagte Liebermann.
Sie sah ihn zweifelnd an. Ob seiner Fähigkeiten als Vater, Mann oder Lebewesen überhaupt, blieb unklar. Dann seufzte sie und schloss Miri in die Arme. Liebermann erhielt einen Streifkuss, der knapp an seinem Ohr vorbeiging.
»Trink nur Wasser aus Flaschen!«, sagte er. »Kein Leitungswasser. Davon soll man alles Mögliche bekommen.«
»Kauf nicht beim hiesigen Fleischer«, sagte Thekla. »In den Koteletts dort wurden Knochen gesichtet.« Sie lächelte schief. »Ansonsten: Willkommen auf dem friedlichsten Flecken der Erde. Wir haben dir eine Pinnwand gekauft, damit du unsere nicht benutzen musst. Ein Zettel ist schon dran, der dich daran erinnert, Miri nächstes Wochenende zu meiner Mutter zu bringen. Sie will mit ihr ins Kinderballett. Und falls es mit deiner Bandscheibe schlimmer werden
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