1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
Land. Bis zur Flut konnte sie nicht anlegen; erst dann würde sie genügend Wasser unter dem Kiel haben. Ich musste den Falben verkaufen, um die Passage für mich und die Stute zahlen zu können. Außerdem musste ich bis zur Flut warten. Ich konnte mich mit dem Pferd nicht zum Schiff hinausrudern lassen und somit sofort aufbrechen, sondern musste bis zum Anlegen warten, um das Tier die Laufplanke hinaufzuführen.
Der Geruch von Fisch stieg mir in die Nase, und der Wind zerrte an meinem salzverkrusteten Haar. Ich blickte zu dem Jungen hinunter – dessen Augen so rot waren, wie ich es von meinen annahm. Die ganze letzte Nacht hindurch war er nicht bereit gewesen, neben mir zu schlafen.
»Ja«, sagte ich. »Das hier ist weit genug weg von jeder Zivilisation, dass sie es gewöhnt sein werden, dass Männer hier ihre illegalen Duelle ausfechten. Ich nehme nicht an, dass man uns stören wird. Wäre Euch der Strand genehm, Messire?«
Niedrige Landspitzen ragten zu beiden Seiten der Stadt ins Meer hinaus. Bei der westlichen befand sich eine weitere Bucht, leer und abgeschieden, wo die Wellen sanft auf den weißen Sand spülten. Das wäre weit genug von den Fischerhütten entfernt, damit niemand sich von dem Lärm gestört fühlte. Tatsächlich würden sie noch nicht einmal einen Schuss hören.
»Ich habe mich umgesehen. Jenseits der Felsen dort ist es flach.« Dariole beschattete die Augen mit der Hand. »Sicher. Lasst es uns dort erledigen.«
An diesem Morgen wirkte er nüchterner als an den Tagen zuvor. Ich folgte ihm in Richtung Bucht. Die andalusische Stute führte ich hinter mir her, um so zu vermeiden, dass sie auf den glatten Steinen ausrutschte. Wie ein kleiner Junge schaute Monsieur Dariole im Vorübergehen in jeden Felstümpel – aber mir fiel auf, dass er die Hände stets an seinen Waffen hielt und nie weit genug vor mir ging, als dass ich hätte blankziehen können, ohne ihn vorzuwarnen.
Die beiden Steinschlosspistolen hingen in den Pistolenhalftern am Sattel der Stute. Sie waren geladen und gespannt.
Damit endet meine Besessenheit.
Monsieur Dariole sprang geschickt von Fels zu Fels und trat hinaus auf den breiten Sandstrand dahinter. Er stolzierte wie ein typischer Duellant, was bei einem so jungen Kerl reichlich seltsam wirkte. Sein viel zu charmantes Lächeln beeindruckte mich nicht. Der Wind zerzauste ihm das Haar, und nur der Hut hielt es davon ab, ihm in die Augen zu fallen. Auch in einem Kampf würde es ihm so nicht im entscheidenden Augenblick die Sicht behindern.
Ich schüttelte den Kopf. Es würde keinen ehrlichen Kampf geben; hier ging es nicht um meine Würde.
Wäre das der Fall gewesen, hätte ich tatsächlich herausfinden wollen, wer der Bessere von uns war. Ich hätte ihn sich mir unterwerfen lassen, vielleicht gar auf den Knien, und dafür gesorgt, dass er meine Überlegenheit anerkannte – tatsächlich wäre es genau das gewesen, was ich gebraucht hätte, um den bitteren Geschmack der Demütigung aus meinem Mund zu bekommen.
Doch nichts von alledem war nun von Bedeutung. Ein Mann meines Alters weiß, dass manche Dinge unerledigt bleiben müssen. Ich muss überleben, um zu gegebener Zeit reden zu können, und dafür muss er sterben.
Ich warf einen Blick zu der verschlafenen Stadt zurück, die hinter der Klippe verschwand. Nachdem die Morgenarbeit erledigt war, die Fische ausgenommen, verpackt und zum Markt gekarrt, fuhren die Boote wieder aufs Meer hinaus. Für einen Ort, der so weit weg von Paris lag, kursierten hier bemerkenswert viele Gerüchte über Heinrichs Tod – zumal Nachrichten aus der Hauptstadt für gewöhnlich mit einwöchiger Verspätung eintrafen, wie ich in einem kurzen Gespräch mit dem Infanteriesergeanten im Ruhestand herausgefunden hatte, der die Torwachen befehligte. Offensichtlich hatte man im Gefolge dieser Neuigkeiten das Stadtarsenal geöffnet, sodass die Wachen nun in antike Kettenpanzer gehüllt und mit Hellebarden und schweren Schwertern ausgerüstet waren, die aus einem anderen, weit älteren Zeitalter Frankreichs stammten. Zwei Generationen Krieg haben uns gewisse Reflexe beschert: Tore bewachen, Fremde befragen, Reisenden misstrauen.
Monsieur Dariole würde es wohl kaum überleben, sollte man ihn verdächtigen, irgendetwas mit Heinrichs Tod zu tun zu haben, sinnierte ich.
Und ich auch nicht, wenn man mich mit dem Namen Rochefort in Verbindung bringt.
Oder mit ›Belliard‹, falls Ravaillac dieses Pseudonym verraten hatte, und das hatte er
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