1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
glauben lassen, dass ich ihn verraten hatte.
Die Laterne flackerte, verlosch und ließ mich in der Dunkelheit zurück. Ich konnte meine Hand nicht mehr vor Augen sehen. Vorsichtig tastete ich mich wieder in den Hof hinaus. Im trüben Sternenlicht konnte ich wenigstens die verschlossenen Fensterläden, den dunklen Giebel und den Wassertrog erkennen. Eine Zeit lang setzte ich mich auf den Rand des Troges, der in der kalten Luft weiß von Reif war. Die Kälte drang durch meinen spanischen Mantel, durch mein Wams und durch mein Leinenhemd hindurch.
Soll sie ruhig, dachte ich. Wenn mein Leib mich verriet, konnte ich ihn bestrafen. Vielleicht würde er dann in Zukunft nicht mehr so leidenschaftlich sein.
Allein schon bei dem Gedanken an Monsieur Dariole wurde mir wieder ein wenig warm, und mein Fleisch zuckte. Es war eine Qual. Ich mochte den jungen Mann ja von ganzem Herzen hassen, aber der Schwanz eines Mannes lässt sich nicht so leicht beherrschen.
Wenn das Wahnsinn ist, so lässt es sich einfach beheben: Tote Jungen haben keine Freunde und keine Liebhaber.
Die Zeit verstrich unendlich langsam. Schließlich dämmerte es am Horizont. Reif glitzerte auf den Grasbüscheln, die zwischen den Pflastersteinen wuchsen, und die ersten Vögel sangen am Himmel. Ich fühlte mich vollkommen abgespannt und hörte die Diener im Gasthof rumoren. Der letzte Rest Branntwein brannte mir im Mund.
Ich warf die Flasche quer über den Hof und verschränkte die Hände, als könne ich so das Leben wiederfinden, das mir durch die Finger geronnen war. Mein Fleisch war blau und weiß vor Kälte. Als ich die Lederhandschuhe über die steifen Gelenke zog, zuckte ich unwillkürlich vor Schmerz zusammen und fluchte über meine eigene Dummheit: Ein Duellant ließ seine Hände niemals kalt und steif werden.
Langsam wurde es heller. Ich roch Essen aus der Küche. Ich kehrte wieder in den Stall zurück, um mir ein sauberes Hemd aus meiner Satteltasche zu holen und lehnte mich kurz an die Heuballen.
Eine Hand voll Stroh traf mich mitten ins Gesicht.
Ich stöhnte, setzte mich auf und erkannte, dass ich mich hingelegt hatte. Ich musste bei dem Versuch eingeschlafen sein, mein Wams von der Hose zu lösen. Dem Licht nach zu urteilen, hatte ich jedoch nicht länger als eine drei viertel Stunde hier gelegen.
Dariole grinste mich an. Er stand neben dem Falben und klopfte sich Stroh vom Wams. »Gut geschlafen, Messire? Ich ja.«
Wortlos stand ich auf, ging aus dem Stall und tauchte den Kopf in den Wassertrog.
Als ich mir die nassen Haare aus dem Gesicht strich, den Kopf schüttelte und leise vor mich hin fluchte, sah ich, dass Monsieur Dariole mir gefolgt war. Er lehnte am Stalltor, die Arme vor der Brust verschränkt und die Lippen fest aufeinander gepresst, als müsse er ein Lächeln unterdrücken.
»Ich hätte Euch ja zum Frühstück geweckt, Messire Rochefort, aber Ihr habt so friedlich ausgesehen.«
Sowohl mein Dolch als auch mein Rapier hatten sich beim Schlafen in meine Seite gedrückt; das spürte ich. Ich fragte mich, ob ich nicht nur von einer Hand voll Stroh geweckt worden wäre, hätte ich sie vorher abgelegt.
»Hört mir zu«, verkündete ich grimmig. »Die Männer, die uns verfolgen, suchen nach einem Mann, nicht nach zweien. Deshalb habe ich auch beschlossen, Euch vorerst am Leben zu lassen. Von nun an werden wir als junger Edelmann mit Begleitung reisen – als Onkel und Neffe wäre wohl ganz gut.«
Dariole zog die Mundwinkel hoch. »Ist das kein Inzest?«
Ich ignorierte seinen Spott. »Ich habe den Wirt befragt. Wie ich gehofft habe, gibt es im Norden ein paar Fischerdörfer an der Küste. Wenn wir uns beeilen, werden wir in weniger als einer Woche dort sein. Einmal auf See könnte ich sonstwohin gehen, ohne dass meine Verfolger es wissen. Gehen wir dann wieder an Land, brauchen wir einander nicht mehr.«
Dariole legte den Finger unter dem Hut an die Stirn. Im Morgenlicht wirkte seine Haut so glatt und geschmeidig wie die eines Mädchens. »Was habe ich hier stehen, Messire? ›Idiot‹? Ich weiß, dass Ihr mich töten müsst. Ihr könnt mich nicht zurücklassen, damit sie nicht aus mir herausbekommen, was ich weiß. Und ich habe mir schon eine Menge zusammengereimt.«
Ich musterte sein Gesicht. Verachtung und Freude mischten sich dort zu gleichen Teilen. Er nahm den Gedanken an seinen eigenen Tod nicht ernst, das konnte ich deutlich sehen.
Ich schickte mich an, in den Stall zurückzukehren, und er trat vom Tor weg, um ein
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