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1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist

Titel: 1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Gentle
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noch auf Portugiesisch und Englisch an, und tatsächlich erhellte Verstehen sein Gesicht.
    »Er kennt Englisch, Spanisch und Portugiesisch«, sagte ich. »Die Sprachen der Seefahrer. Ich glaube, unser Dämon stammt von dieser Welt und nicht aus der Hölle.«
    »Er kommt von dem Wrack.« Dariole sah ein wenig enttäuscht aus. »Eine Frau hat erzählt, dass sie heute Morgen die Küste abgesucht hätten. Ihn haben sie offenbar übersehen.«
    »Die Flut kommt bald.« Ich schaute mich um. Überall lag noch undefinierbares Treibgut: zerbrochene Planken, Taureste und dergleichen, was keinen direkten Nutzen mehr hatte. Ich deutete zu diesen Trümmerteilen und sagte auf Spanisch und dann auf Englisch: »Warst – du – auf – einem – Schiff?«
    Der Mann beobachtete aufmerksam meine Lippen, als müsse er sich erst an den Klang meiner Stimme gewöhnen.
    »Schiff. Untergehen.«
    Ich erkannte die Worte; das war Londoner Englisch.
    »Vielleicht war es ein Dämonenschiff«, bemerkte Dariole.
    Er klang hoffnungsvoll. Ich fragte mich, ob er zu jener Art von jungen Männern gehörte, die nach ihren Besuchen bei Zaton häufig zu einer Zigeunerwahrsagerin oder irgendeinem Hinterhofalchemisten gingen.
    Die schwarzen Augen der Missgeburt waren klarer, als man bei einem Mann seines Alters erwarten würde. Er war deutlich über fünfzig, vielleicht schon fast sechzig. Ein alter Dämon, dachte ich und grinste amüsiert ob Darioles abergläubischen Mutmaßungen.
    Doch andererseits war der Junge auch bei weitem noch nicht so alt wie ich und hatte nicht annähernd so viel Missgeburten gesehen. Die Natur ist nicht immer freundlich, und Gott scheint es egal zu sein, was sie tut.
    »Wo kommst du her?« Ich stellte die Frage auf Englisch. »Wer bist du?«
    Er sagte ein Wort, das ich nicht verstand. Ich nahm allerdings an, dass es sich um einen Namen handelte. Er wiederholte es. Diesmal verstand ich den Klang, wenn auch nicht den Sinn.
    »Nihon. Nihon, Gott gebe Euch gute Höhle, ehrenwerter Sir. Nihon!«
    »Nihon?«
    Mit offensichtlicher Mühe brachte er langsam hervor: »Japan.«
    Ich erinnerte mich vage an einen seidenen Wandschirm, der dem päpstlichen Legaten gehört hatte, einem Vater Cotton, welcher oft mit meinem Herrn, dem Herzog, zusammengetroffen war. Rundköpfige, schwarzhaarige Pilger bei einer Prozession waren darauf abgebildet gewesen, Hunderte, alle dicht an dicht. Ich blickte auf den atmenden Mann hier vor mir am Strand der Normandie, und ich hatte das Gefühl, als würden sich die Bilder in meinem Geist übereinander legen.
    »Japan«, sagte ich laut.
    Er zuckte mit dem Kopf, stieß ein Geräusch aus, das wohl Zustimmung bekunden sollte und spie wieder eine kleine Menge Wasser aus. Über das Husten und Würgen hinweg und während er den Mann noch immer an den Schultern hielt, sagte Dariole: »Wo ist dieses ›Japan‹?«
    »Bei Indien und China.« Als er mich daraufhin verständnislos ansah, fügte ich hinzu: »Die Jesuiten holen ihr Geld dort her. Wenn er auf einem Schiff war, ist er vermutlich ein Kaufmann.«
    Und jetzt ist er hier, lebendig, und was soll ich jetzt mit ihm tun?
    »Kaufmann?«, wiederholte Dariole auf Englisch.
    »Nicht Kaufmann!« Der Fremde zuckte vor Monsieur Dariole zurück, und ich packte ihn am Arm, damit er nicht mit dem Gesicht voran in den Sand fiel. Er blieb auf den Knien, starrte mich an und stieß einen derartigen Schwall von Worten aus, dass ich nicht eines davon verstehen konnte.
    »Langsamer!«
    Er hielt inne, schaute mich weiter an und sprach dann langsamer. Seine Betonung war vollkommen falsch, die Worte aber verständlich.
    »Ich bin von der Gruppe des Gesandten. Gesandter von Tokugawa Hidetada zu König-Kaiser von England!«
    Die Namen konnte ich mir ohnehin nicht merken. Ich schüttelte den Kopf, und er versuchte es erneut: »Wo dieses Land ist?«
    Höflich antwortete ich: »Ihr befindet Euch an der Küste der Normandie, Monsieur, in Frankreich.«
    Er straffte die Schultern, ohne etwas darauf zu erwidern.
    Ich kann Monsieur Dariole nicht lebend hier lassen, dachte ich, und ich kann ihn nicht vor diesem Fremden töten, ohne ihn auch zu erschlagen, weil er sich verständlich machen kann. Ich hätte ihn nie wiederbeleben sollen! Wie habe ich in meinem Alter bloß in solch ein Dilemma geraten können?
    Offensichtlich war ich ein Narr gewesen. Ich hatte Monsieur Darioles Tod unnötig hinausgezögert, und nun hatte ich auch noch einen japanischen Seemann am Hals.
    Diese Situation ist überaus

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