1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
Überall schrien und rannten Männer; das Meer
donnerte, und das Krachen der Planken übertönte alles.
Nach ein paar wertvollen Sekunden stopfte ich die verbliebenen
Rüstungsteile zusammen mit dem Helm in einen Sack und band diesen an
meine Hüfte. Nachdem das erledigt war, steckte ich meine Schwerter zu
der Rüstung – welche mir viel zu groß war –, und derart
verpackt kletterte ich aufs Deck, um ins Meer zu springen.
Schäumendes Wasser stürzte die Stufen hinunter, als ich sie hinaufsteigen wollte.
Ich klammerte mich an die Reling, schloss den Mund, um die wenige
Luft in meiner Lunge zu behalten, und beschloss, von dem untergehenden
Schiff zu schwimmen. Einen guten Tod hatte ich bereits versäumt. Das
hier war zwar kein Ersatz, doch wenn ich schon sterben musste, dann nachdem ich die Neuigkeiten von den Anghrazi – den Engländern – zurückgebracht hatte und nicht bevor.
Ich überlebte. Doch als ich auf dem kalten, festen Sand des Strandes
wieder erwachte, hatte das Meer mir meine Rüstung und mein Gepäck
genommen. Als ich das erkannte, verlor ich erneut das Bewusstsein,
während ich noch jedem Gott oder kami einen Eid schwor,
der zuhören wollte: Ich schwor, dass ich den Gesandten und jeden
Überlebenden meiner Männer finden und meine Befehle ausführen würde,
koste es, was es wolle. Für mich ist das eine Frage der Ehre. Es ist
alles, was ich tun kann.
Rochefort: Memoiren
Neun
Das Wetter verschlechterte sich, und so kostete es uns achtundvierzig Stunden, das Meer bis London zu überqueren. Die Sonne zeigte sich erst wieder, als wir schon weit in die Themse hineingefahren waren. Ich verbrachte diese Zeit mit einer Eifersucht, die ich nicht gewollt hatte und auch nicht wünschte, nun da ich sie empfand.
Mademoiselle Dariole zu beobachten, wie sie sich im Regen an die Taue klammerte und sich mit der brechenden Stimme eines Jünglings mit dem Kapitän austauschte; sie in der Kabine zu sehen, wo sie mit leuchtenden Augen Monsieur Saburo nach seinen ›Kattan‹-Klingen befragte … All das war eine Qual für mich und lenkte mich überdies von meiner Pflicht ab.
Die St Willibrod legtean einem der vielen Docks von London an, südlich der London Bridge mit ihren Häusern und neunzehn Bögen. Es dauerte nicht lange, bis ich den Spion entdeckte, der das Schiff beobachtete, aber ich habe ja auch den Vorteil, selbst lange genug in diesem Geschäft tätig gewesen zu sein.
Er war kein Spitzenagent, sonst hätte er nicht Dienst an solch einer Stelle getan. Er war nur ein einfacher Gerüchtesammler, der sich für seinen Herrn nützlich machte, indem er die einlaufenden Schiffe beobachtete und schaute, wer von Bord kam. An diesem Morgen lehnte er an der Wand einer Taverne, vor der Kapitäne ihre nächsten Reisen besprachen und Kaufleute sich darüber beschwerten, dass ihre Waren in den Lagerhäusern verrotteten. Ich vermutete, dass er sich als Dolmetscher anbieten würde.
Aber nicht mir.
Diese Ankunft in London war vollkommen anders als meine letzte. Damals war ich mit meinem Herrn Sully in der königlichen Barke von Dover hierher gefahren. Die ganze Reise über hatte ich dafür gesorgt, dass die verdammten Engländer den Herzog von Frankreich mit dem gebührenden Respekt behandelten, nachdem der Lord von Dover uns übelst über den Tisch gezogen hatte. Der Kerl hatte Messire Sully überredet, mit seinem gesamten Gefolge die Burg von Dover zu besichtigen, doch kaum oben angekommen, verlangte er von jedem einzelnen von uns tatsächlich Geld für eine Führung.
Damals waren wir im Westen der Stadt, weiter flussaufwärts an Land gegangen und nicht hier in den Armenvierteln im Osten. Die Londoner Straßen sahen noch genauso kalt aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, und den Horizont bildete nach wie vor eine endlose Reihe von Kirchturmspitzen, die in den kühlen Maihimmel hinaufragten.
»Wir werden noch auf mehr Spione stoßen«, warnte ich Monsieur Saburo. »In jeder Stadt mit einem königlichen Hof wimmelt es nur so von Informanten.«
»Hai. Wie in Edo.« Saburo stand neben mir an der Reling. In den Armen hielt er den Mantel. Ich nahm an, dass er den nihonesischen Kriegshelm darin verbarg. Er stieß eine Art Lachen aus. »Aber ich nehme an, sie suchen nicht gezielt nach uns, nicht wahr?«
»Kaum.«
Weiter flussaufwärts waren die Bastionen einer großen Festung zu sehen nicht unähnlich dem Arsenal, das der Duc de Sully für gewöhnlich bewohnte, nur dass die Engländer diese Feste auch als
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