1610 Teil 1 - Der letzte Alchimist
nie darüber gesprochen hätten, wären die Umstände nicht so außergewöhnlich.«
Die Stute knabberte an meiner Schulter und schnaufte, wie es typisch für ein Pferd in der Nähe des Menschen ist, dem es vertraut. Instinktiv rieb ich ihr die Nüstern. Sie versetzte mir einen leichten Stups, nur ein Hauch der Kraft, die sich in ihren Muskeln verbarg.
»Lasst uns nach London gehen. Die Frau kann zu ihren Verwandten weiterziehen. Ich werde Euch den Weg zu König James zeigen, und bis dahin lasst uns beten, dass der falsche Mann nicht zur falschen Zeit in meine Richtung guckt …«
Saburo nickte zum Meer hin, wo das Sonnenlicht allmählich den Dunst vertrieb. »Wenn ich ein Gedicht schreiben könnte, würde ich etwas für meine Männer schreiben. Sie waren tapfer und ehrenhaft, und sie verdienen einen Schrein. Sie waren ashigaru , und sie sind weit entfernt von ihrer Heimat gestorben.«
Und damit sind sie wohl nicht allein, sinnierte ich mit schwarzem Humor und blickte Saburo hinterher, wie dieser breitbeinig über den Strand marschierte.
Kurz hielt er an, um mit Mademoiselle Dariole zu sprechen und auf die Leichen zu deuten.
Es erleichtert mich, dass ich sie nicht werde töten müssen.
Diese Erleichterung kam plötzlich und aus dem Nichts. Es war ein Schock. Meine Hände waren schon über viele Jahre hinweg nicht mehr sauber. Ich mochte ja oft meine Morde bereuen, doch ich hatte noch nie so etwas wie Erleichterung empfunden, wenn das Schicksal es wollte, dass ich einen Mann am Leben ließ – oder eine Frau.
Ich bringe die beiden aus meinem Land.
Ich beobachtete, wie Mademoiselle Dariole den Kopf zurückwarf und über etwas lachte, das der Nihonese zu ihr gesagt hatte.
Lebendig nützen sie mir mehr.
Außerdem würden beide nicht einfach zu töten sein; ich hatte gesehen, wie gut sie zu fechten vermochten. Aber schiebe ich die Entscheidung vielleicht nur hinaus? Und wenn ja, warum?
Der stämmige Fremde und die junge Frau schnappten sich je einen Fuß eines Toten. Gemeinsam schleppten sie den letzten Leichnam zum Meer, und der Wind trug mir Saburos Grunzen zu, gefolgt von Darioles hellem Lachen. Ich verzog das Gesicht.
Ich verzog das Gesicht – und beherrschte mich wieder.
Wenn sie seine Gesellschaft mag … Was kümmert mich das? Was kümmert das ausgerechnet mich?
Kälte breitete sich in meinem Bauch aus, und mir kam ein Gedanke.
Gütiger Gott, ich kann doch nicht eifersüchtig sein … oder'?
Teil Zwei
Auszug aus dem Bericht des Samurai Tanaka Saburo an Shogun Tokugawa Hidetada
[Anmerkung des Übersetzers: Das scheint mir die beste Stelle zu sein, ein weiteres der Dokumente einzufügen, die mit Rocheforts Memoiren gefunden worden sind. Der zweite Teil der Memoiren folgt unmittelbar im Anschluss.
Die Memoiren nutzen die verschiedenen respektvollen Anredeformen auf höchst eigenwillige Art und Weise ( dono , tono etc.), was zu sprachlichen Missverständnissen führen könnte. Für diese Übersetzung habe ich sie daher durch das vertrautere san oder sama der
Edozeit ersetzt (auch wenn das nicht ganz korrekt ist), um den Text für
den modernen englischen oder japanischen Leser verständlicher zu
machen.]
Es gab einst jemanden, der das Pech und den schlechten Geschmack hatte, den Höhepunkt seines Lebens zu überleben.
Mir wurde der beste Tod geboten, und ich habe ihn versäumt. Mein
Herr hat ihn auch versäumt, doch hatte er das Glück, binnen der
nächsten zwei Jahre zu sterben, als ein Teil des Goldes noch an ihm
hing und ihm ein gewisses Maß an Glanz verlieh. Fürst Kobayakawa
Hideaki. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, als ich an seinem Grab stand.
Ich war siebenundvierzig.
Der Höhepunkt unseres Lebens, zwei Jahre zuvor, war eine Schlacht gewesen und was für eine große Schlacht – die große Schlacht unserer Zeit. Wenn man das Privileg hat, mit und gegen die größten daimyo unseres
Landes zu kämpfen, wenn man die Zukunft für alle Zeit durch eine
schlichte, aber entscheidende Tat verändert hat, was bleibt dann noch?
Mein Herr und ich, wir haben bei Sekigabara gekämpft. Im
entscheidenden Augenblick der Schlacht liefen wir zur Ostarmee und
damit zu Eurem Vater über, Fürst Tokugawa Ieyasu, der durch diesen Sieg
zum Shogun aufgestiegen ist. Mein Herr Hideaki wurde für seine Tat mit
der Provinz Chikuzen belohnt. Mir gestattete man, ihn zu begleiten.
Wir nahmen auch an den letzten Scharmützeln des Krieges teil, als
der große Shogun rebellische Fürsten und Gesetzlose verfolgt
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