1626 - Die Nymphe
Wesen war noch da. Es war nur unter dem Boot hinweggetaucht, um an der anderen Seite wieder aufzutauchen.
Und diesmal blieb es nicht im Wasser.
Es durchstieß die Oberfläche.
Verbunden war dies mit einem leisen Plätschern der Wellen, das sich anhörte wie Musik.
Judys Augen weiteten sich. Was da aus dem Wasser erschienen war, konnte sie beim besten Willen nicht als einen Fisch bezeichnen.
Es war eine junge Frau mit langen Haaren, die ihre Arme angehoben hatte und sich mit beiden Händen an der Bordwand festhielt…
***
Es war eine Szene, die sich Judy nicht mal im Traum hätte vorstellen können. Sie saß da wie eingefroren und schaute auf die Gestalt, die aus der Tiefe gekommen war. Normalerweise war so etwas nicht möglich.
Die junge Frau hätte ertrinken müssen, aber das war sie nicht. Sie lebte, sie hielt sich fest, hatte ihren Kopf leicht in den Nacken gelegt und schaute Judy ins Gesicht.
Die Fremde gab Judy Zeit genug, sie sich genauer anzuschauen. Ein blasses und fein geschnittenes Gesicht mit einem kleinen Mund, einer etwas spitzen Nase, dem runden Kinn und den offenen Augen, deren Farbe nicht zu erkennen war.
Sie hatte langes Haar, das nass war, auch strähnig. Es verteilte sich auf den Schultern und die Enden einiger Strähnen berührten die kleinen Brüste der schmalen Frau.
Sie war wie aus dem Nichts gekommen. Ihr Erscheinen hatte Judy May Angst eingejagt, und diese Furcht war auch in den folgenden Sekunden geblieben, doch jetzt nahm sie immer mehr ab und hatte sich in eine starke Neugierde verwandelt.
Judy May wollte sprechen. Es fiel ihr schwer. Auch fand sie nicht die richtigen Worte, und als sie sich endlich entschlossen hatte, da reagierte die Unbekannte vor ihr.
Sie löste eine Hand vom Bordrand und streckte sie Judy entgegen. Sie griff automatisch zu und hielt die feuchte Hand fest. Der Kajak war nicht eben breit. Er konnte leicht kentern, wenn die Bewegungen falsch angesetzt wurden. Das befürchtete Judy, aber sie hatte Glück. Das nackte Wesen enterte den Kajak, ohne dass er kenterte.
Dann saßen sie sich gegenüber.
Beide schauten sich an.
Judy May überlegte krampfhaft, in welche Schublade sie die Gestalt schieben sollte. Die junge Frau sah aus wie ein Mensch, aber das war sie nicht, denn ein Mensch konnte nicht unter Wasser leben. Der brauchte Luft, um existieren zu können. Das war wohl bei dieser Gestalt nicht der Fall.
Ihre Gedanken jagten sich. Judy suchte nach einer Erklärung. Wieder kamen ihr viele Geschichten in den Sinn, die sie erst noch ordnen musste.
Es gab eine Erklärung für eine solche Person. Es gab auch einen Namen, und der fiel Judy May schlagartig ein.
Eine Nymphe!
Ja, sie musste eine Nymphe sein. Ein Wesen also, das auch im Wasser leben konnte.
Als sie diesen Gedanken beendet hatte, war für Judy ein Märchen wahr geworden…
***
Als ich den Rover vom schmalen Feldweg weglenkte und in einen noch schmaleren Pfad fuhr, fragte ich mich, ob das, was ich jetzt tat, auch richtig war. Egal, ich hatte mich darauf eingelassen und musste es durchziehen.
London hatte ich hinter mir gelassen, jetzt befand ich mich in einer waldreichen Gegend, die von weichen Hügelketten gezeichnet war. Der Weg, den ich nahm und der dabei leicht abwärts führte, verband zwei Waldstücke miteinander.
Mich umgab die nächtliche Dunkelheit, und nur das Licht der Scheinwerfer schnitt eine helle Schneise hinein. Der Untergrund war alles andere als eben, und so schaukelte der Rover immer wieder von einer Seite zur anderen.
Die Strecke war mir genau beschrieben worden. Ich sollte unten am Wald auf einem schmalen Weg anhalten, der direkt an den dicht zusammenstehenden Bäumen entlang führte. So weit war alles klar.
Dass ich hier durch die Einsamkeit fuhr, war schon leicht verrückt. Ich wusste auch nicht genau, auf was ich mich da einließ, aber wer so lebte wie ich, der hatte es eigentlich nur mit Verrückten zu tun, die leider oft genug lebensgefährlich waren. Bisher hatte ich alles überstanden, auch Alleingänge, und ich hoffte, dass es diesmal auch so sein würde.
Den größten Teil der Strecke hatte ich geschafft. Das Gelände wurde flacher, dafür verschwand der Pfad, und so rollte ich leicht schlingernd über eine dichte Grasschicht hinweg, die sich bis zum Waldrand hinzog, wo sich allerdings ein Weg auftat. Das sah ich im kalten Licht der Scheinwerfer.
Hier war der Ort, an dem ich warten sollte.
Ich fuhr den Rover so dicht an den Waldrand heran, dass die tief
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