1626 - Die Nymphe
würdest, weshalb ich hier bin.«
»Keine Sorge, John, du wirst es sofort hören. Und du musst gut zuhören, denn zu dir spricht eine Person, die eigentlich nicht mehr lebt…«
***
Die Nymphe und die junge Frau saßen sich im Kajak gegenüber. Sie schwiegen sich an.
Für Judy May war das, was sie da erlebte, noch immer unbegreiflich.
Selbst als sie die nasse Gestalt vor sich sah, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie vor Kurzem erst aus dem tiefen kalten Wasser gekommen war. Das hatte etwas völlig Irreales an sich, was mit dem normalen Verstand nicht zu begreifen war.
Die Angst, dass ihr Boot kentern könnte, war verflogen. Das Schaukeln gab es nicht mehr und auch das Wasser hatte sich beruhigt. Es gab nur die beiden Frauen. Judy May hatte auch ihre Umgebung vergessen und spürte selbst die klamme Feuchtigkeit nicht mehr.
Die nackte bleiche Gestalt vor ihr nickte Judy zu.
»Ich wusste, dass du kommen würdest.«
Judy sagte nichts. Sie krampfte ihre Hände zusammen und lauschte dem Klang der Stimme nach. Die Nymphe hatte leise gesprochen, aber ihre Stimme war sehr klar gewesen, und so hatte Judy sie gut verstanden.
»Woher wusstest du das?«
»Es ist das Schicksal. Es sind die beiden Gegensätze.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich will es dir sagen. Wenn etwas Böses geschieht, muss sich das Gute auf den Weg machen und es bekämpfen. Und es ist etwas Böses geschehen, das weiß ich. Aber jetzt bist du da, um etwas Bestimmtes zu tun. Du bist eine Botin.«
Judy hatte genau zugehört und auch alles verstanden. Allein, sie begriff den Sinn der Worte nicht. Durch diese Erklärungen hatte sich für sie eine völlig neue Welt eröffnet. Etwas, an das sie nie geglaubt hatte. Nur musste sie jetzt umdenken. Diese nackte Person hatte von etwas Bösem gesprochen, das bereits unterwegs war. Darauf kam Judy zu sprechen.
»Ich soll das Böse aufhalten?«
»Ja.«
»Aber warum ich?«, flüsterte sie und konnte ihr Erstaunen einfach nicht ablegen.
»Du bist gekommen.«
Judy lachte. »Ja, ich bin gekommen. Aber nicht bewusst. Ich wollte nur paddeln und…«
»Nein, Judy, nein.«
»Du kennst mich?«, flüsterte sie.
»Ja. Und ich will dir sagen, dass es kein Zufall ist, dass wir uns hier getroffen haben. Der Strahl des Schicksals hat dich hergelenkt und für unser Treffen gesorgt. Das ist so, meine Liebe. Dagegen kannst du dich nicht wehren.«
Judy May antwortete nicht. Sie war einfach zu erstaunt. Eigentlich hätte sie umdrehen und die Höhle verlassen müssen, ohne sich weiter um diese seltsame Gestalt zu kümmern. Das schaffte sie nicht. So blieb sie sitzen, und sie fühlte sich weiterhin durch diesen seltsamen Zauber gefangen.
»Woher kennst du mich?«
»Ach, das ist nicht wichtig. Denk an das Kloster, das kann ich sagen.«
»Und?«
»Bist du nicht öfter dort?«
»Ja, ja. Ich kümmere mich um gewisse Dinge. Ich stehe den älteren Nonnen oft zur Seite. Ich koche auch für sie. Manchmal putze ich, das ist alles.«
»Betest du auch mit ihnen?«
»Nein. Oder nur selten.«
»Aber deine Seele ist rein. Sonst hätte man dich nicht geschickt.«
Beinahe hätte sich Judy wild bewegt. Sie ließ es bleiben und riss sich zusammen.
»Aber ich bin nicht geschickt worden!«, zischte sie. »Ich bin freiwillig gefahren. Ich liebe mein Kajak. Ich fahre öfter damit…«
»Auch auf diesem See?«
»Nein. Das ist eine Premiere.«
»Siehst du. Deshalb hat man dich geleitet, um einer Wahrheit nahe zu kommen.«
»Ach. Und wer soll mich geleitet haben?«
»Die…«
»Nein.« Judy unterbrach die Nymphe. »Fang nicht wieder vom Strahl des Schicksals an oder so…«
»Das habe ich auch nicht sagen wollen.«
»Was dann?«
»Es ist ein Geist gewesen. Der Geist einer besonderen Frau, die du kennst. Die tot ist und trotzdem nicht sterben kann, weil sie mit der Welt noch nicht abgeschlossen hat. Und so wird sie auch nicht begraben, obwohl sie längst in den Zustand der Verwesung hätte übergehen müssen. Aber das ist nicht geschehen. Du bist öfter im Kloster. Du musst die Nonne gesehen haben oder hast zumindest etwas von ihr gehört.«
Je länger die Nymphe sprach, umso mehr fing die Zuhörerin an zu zittern. Ja, sie wusste, wovon geredet wurde. Vom Nichttod der Nonne Melissa, die im Kloster versteckt und als ein großes Geheimnis bewahrt wurde. Judy hatte auch nur durch Zufall davon gehört und nicht weiter nachgefragt, denn das war etwas, über das die wenigen noch verbliebenen Frauen nicht sprechen wollten. Es
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