168 - Das fremde Leben
überall standen Buschhaine, und wenige tausend Längen entfernt schimmerten rote Bergrücken mit weißen Gipfeln.
Gilam'esh blickte zurück und sah das Flussdelta unten im Tal liegen. Und plötzlich erinnerte er sich: Das war die Hochebene, an deren Rand er sich vor mehr als vierzig Umläufen von der Expedition um Wanil'ama und Leg'wanot verabschiedet hatte.
Alles fließt, raunte die Stimme des Maddrax-Geistes in seinem Hirn, und alles fließt im Kreis, und alle Kreise schließen sich irgendwann.
Sie zogen durch die Hochebene, über die Ostflanke des Gebirges, und nahmen den Aufstieg zu dessen höchsten Gipfel in Angriff. Von Zeit zu Zeit holte Gilam'esh den Kristall, den Leg'wanot ihm vor vierzig Umläufen geschenkt hatte, aus der Hüfttasche. Der Schlüssel zur Forschungsstation und zugleich ein Wegweiser.
»Du besitzt ihn noch, Gilam'esh?« wunderte sich Leg'wanot.
»Ich dachte, mit der Wahrheit über den Untergang Rotgrunds hättest du auch ihn vergessen.«
»Ich habe ihn gehütet wie einen Schatz«, sagte Gilam'esh.
Der Kristall leuchtete in dunklem Blau, ein Zeichen, dass sie auf dem richtigen Weg waren. »Und die Wahrheit zu vergessen wurde mir befohlen. Ich war jung, hatte gerade die Reifeprüfung hinter mir und musste einen Schwur ablegen.«
Leg'wanot antwortete nicht. In seiner silberschuppigen Miene jedoch konnte Gilam'esh lesen, dass er die Entschuldigung nicht gelten ließ.
Die Schneegipfel kamen näher, es wurde kälter. Sie packten ihre Kapuzenmäntel aus und zogen sie an. Die Schutzmäntel waren aus bionetisch veränderter Thurainahaut, die sich der Körperform anpasste. Eine Membranlasche oben in der Kapuze nahm den Scheitelkamm auf.
Zwei Lichter später erreichten sie die Schneegrenze und kurz darauf die Stelle, an der ein schmaler Pfad in das Gipfelmassiv hineinführte. Hier ließ Gilam'esh vierundzwanzig Krieger als Wachen zurück.
Bevor das Licht sich neigte, standen sie vor der zwanzig Längen hohen Gletscherwand, auf der die Forschungsstation ruhte, und ein wenig später vor der Tunnelöffnung. Auch hier postierte Gilam'esh vierundzwanzig Wachen.
Nacheinander traten sie in den Gletschertunnel, woraufhin Scheinwerfer in dessen Wandwölbungen aufflammten. Bald erreichten sie die ins Eis gehauene Wendeltreppe. Gilam'esh ließ die letzten zwölf Krieger zurück. Er, Manil'bud und die neun Ikairydree stiegen nach oben bis vor die runde, mit Fischhaut bespannte Luke. Das dunkelblaue Licht der in sie eingelassenen Korallenscheiben leuchtete verheißungsvoll.
Leg'wanot überließ es Gilam'esh, die Luke mit seinem Kristallschlüssel zu öffnen.
Gilam'esh kam sich vor wie in einem Traum: der blaue Gang, dann die zweite, kleinere Rundluke, schließlich der hohe Kuppelraum, und über dem transparenten Kuppeldach dann die leuchtenden Sterne.
Als hätten sich Natur und Forschungsstation verabredet, ihn genau so zu empfangen wie bei seinem ersten Besuch hier oben, und wie in den ungezählten Träumen, in denen er seitdem hier eingetreten war.
Und wie damals richtete Gilam'esh den Schlüsselkristall auf jenen gelblichen Lichtpunkt knapp unterhalb der Sichtkuppel.
Auf der Schalttafel über der Instrumentenkonsole flammten viele kleine Leuchten auf.
Während Gilam'esh und Manil'bud in der Mitte des Raumes unter dem Kuppelzenit stehen blieben, gingen die Ikairydree zu verschiedenen Sichtfeldern, Schalterkonsolen und Tastfeldern, und zwar so zielstrebig, als hätte jeder von ihnen hier einen Arbeitsplatz, den er eben erst vorübergehend verlassen hatte.
Manil'bud drehte sich langsam um sich selbst und bestaunte die Instrumentenkonsolen, Schalttafeln und Sichtfelder voller Zahlen, Diagramme und Zeichen. Warum habe ich dergleichen in unseren Forschungslabors noch nie gesehen?, schien ihre Miene zu fragen. Gilam'esh half ihr aus dem Mantel und zog auch seinen eigenen aus. Es war warm hier oben unter der Kuppel.
Hinter den Rücken der konzentriert arbeitenden Silberschuppigen drehte Gilam'esh eine Runde entlang der Konsole mit den Sichtfeldern und Instrumenten. Bei den besten Lehrern der Ditrydree hatte er in den letzten vierzig Umdrehungen studiert, und obwohl die Technik der Ikairydree jener seines eigenen Volkes überlegen war, konnte er die Daten jetzt dennoch interpretieren: Es stand schlimm um den Rotgrund.
Irgendwann drehte sich Wanil'ama zu ihm um und bestätigte seine Befürchtungen. »Das Magnetfeld unseres Planeten ist kaum noch messbar. Der Sauerstoffgehalt in der Rotgrundatmosphäre
Weitere Kostenlose Bücher