1687 - Fremde auf Titan
demselben verwirrten Ausdruck im Gesicht. Dienstkategorie NR. So etwas hörten 99 Prozent aller Lehrer an der Academia niemals, im ganzen Leben nicht. NR bezeichnete einen dringenden Notfall von großer Tragweite; Pädagogik und Notfall, diese beiden Begriffe schlössen einander normalerweise aus.
Paula schob hastig ihren Stuhl zurück, drehte sich um und hastete zum Ausgang. Ein Interkom hing direkt dahinter. Sie aktivierte den Schirm und sagte: „Paula Cganda hier. Bitte das Gespräch durchstellen."
Das Symbol der Academia erlosch. Statt dessen stabilisierte sich das Gesicht eines Mannes, den sie oft gesehen hatte. Sie gehörte nicht zur obrigkeitsgläubigen Schicht der Bürger; trotzdem flößte allein der Anblick ihr Respekt ein. Sie konnte nicht dagegen an. Das Gesicht war mager und knochig, mit großen Augen und dichten Brauen. Es war von wächserner Blässe, und eine Strähne, die in die Stirn hing, strich der Mann jetzt mit einer fahrigen Bewegung zur Seite. „Du bist Paula Cganda?" fragte der Mann. „Das ist richtig."
„Mein Name ist Myles Kantor."
„Ich kenne dich."
„Das vereinfacht die Sache. Ich habe Erkundigungen über dich eingezogen. Es heißt, du seist die einzige kompetente Expertin zum Thema >Erziehungsroboter <, die man im Solsystem bekommen kann."
Innerlich schüttelte sie immer noch den Kopf. Was wollte dieser Kantor? Einer der bekanntesten Männer der Milchstraße, bei dem die Experten einer ganzen Galaxis Schlange standen, nur für ein Gespräch ... „Das stimmt", sagte sie. „Ich muß dich allerdings fairerweise auf ein paar Details hinweisen.
Heutzutage werden Erziehungsroboter praktisch nicht mehr eingesetzt. Es gibt nur noch Museumsexemplare. Ich vertrete sozusagen eine tote Wissenschaft. Die anderen halten mich ... ehrlich gesagt, für eine Idiotin."
Kantor lächelte breit. „Sollen sie denken, was sie wollen. Es interessiert mich nicht. Ich will von dir wissen, ob du für einen Sonderauftrag abkömmlich bist."
„Sonderauftrag?"
Offenbar schaute sie nicht besonders intelligent, denn Kantor lachte ein zweites Mal. „Sonderauftrag, genau. Höchste Geheimhaltungsstufe, deshalb kann ich nichts darüber sagen.
Du müßtest dich für einen Monat oder so freimachen."
„Nun, das wäre schon möglich."
Paula dachte an die gähnend leeren Säle,' wann immer sie ihre Lesung hielt. Die paar, die ihrer Oberweite wegen trotzdem kamen, enttäuschte sie zwar ungern, doch sie nahm keine Rücksicht darauf. Es war eine besondere Lage. Sie erforderte von jedem Opfer. „Gut, Paula." Myles Kantor kniff berechnend die Augen zusammen. „Wir brauchen allerdings nicht dich allein, sondern zusätzlich zehn deiner besten Erziehungsroboter."
„Das sind Museumsexemplare", protestierte sie. „Habe ich das nicht gesagt?"
„Na und? Immerhin doch syntronisch, oder?"
„Wir haben ein paar, die schon auf syntronischen Betrieb umgerüstet sind."
„Gut. Ich sende eine Space-Jet zur Academia. Bitte sei in drei Stunden bereit. Sagen wir, gegen 16 Uhr Ortszeit, Terrania. Ein Hanse-Spezialist holt dich vom Dach der Academia ab. Übrigens, Paula... Von welchem Planeten stammen eigentlich deine Eltern?"
Sie mißtraute ihm plötzlich, fand aber keinen Anlaß, die Antwort zu verweigern. „Terra, warum?"
„Ach, nur so ... Und wie steht's mit den Großeltern?"
Allmählich verlor sie die Geduld. „Alle von Terra, wenn du's wissen willst! Meine Familie ist anscheinend nie von diesem Planeten weggekommen. Und jetzt erklärst du mir bitte, was der Unsinn soll."
„Nein." Trocken abgewürgt. Respekt. „Ich vermute, du hast zu tun."
Mit diesen Worten brach die Verbindung ab. Statt dessen nahm das Symbol der Academia wieder den Bildschirm ein. Und als sie sich umdrehte, standen hinter ihr die Pädagogen. Ein ganzer Haufen, mindestens zwanzig. Einige mit offenstehenden Mündern, andere kopfschüttelnd, die meisten noch mit demselben Ausdruck beschränkten Scharfsinns wie vorhin.
Gleichermaßen wütend und verwirrt bahnte sie sich einen Weg. „Ihr habt's doch gehört, ihr Lauscher. Ich habe zu tun."
*
Weit jenseits der Grenzen des Systems schwebte bewegungslos ein Objekt. Myles Kantor ließ es auf dem Panoramaschirm der PAVO nicht aus den Augen. Restlichtverstärker arbeiteten zunächst die Form, dann die Details der Außenhülle heraus. Das Objekt sah aus wie ein klobiger, quadratischer Klotz mit Tausenden verschiedenster Öffnungen, Aufbauten, Gerätschaften.
Praktisch kein Quadratmeter
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