1695 - Rasputins Erben
Es dauerte eine Weile, bis er seinen heftigen Atem wieder unter Kontrolle hatte. Das Herz klopfte auch weiterhin heftig. Das würde sich so schnell nicht ändern. Der Stress war da und er würde auch weiterhin bleiben.
Als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, fing er an zu lauschen.
Ihn interessierte, was draußen ablief. Schließlich waren ihm seine Häscher auf den Fersen gewesen. Er hörte keine Außengeräusche, sondern nur seinen eigenen Atem – und er stellte fest, dass er in diesem Container nicht allein war. Er musste den Platz mit anderen Bewohnern teilen, die ihm alles andere als sympathisch waren. Er hatte Besuch bekommen. Oder er war der Besucher. Er hatte die anderen Lebewesen gestört, die mit den vier Beinen.
Ratten!
Borodin glaubte nicht daran, dass es Mäuse waren. Er hatte es mit diesen größeren Nagern zu tun und dachte daran, dass diese Tiere eigentlich alles annagten, auch Menschen, wenn sie hungrig waren. Das traf hier hoffentlich nicht zu, da die Tiere im Container bestimmt genug Nahrung fanden und ihn nicht anfallen mussten.
Aber sie waren da. Er sah sie nicht. Er spürte sie nur. Er hörte ihre Geräusche, und kurz danach trippelte ein Tier vom Rücken her über seine rechte Schulter hinweg. Er hörte, dass die Ratte wieder nach unten sprang und sich in den Abfall wühlte.
Gabriel Borodin wollte auf keinen Fall sterben. Dass seine Kleidung dreckig war, störte ihn nicht. Dass er stank, war ihm auch egal.
Das schmale Handy steckte in seiner rechten Jackentasche. Er klaubte es hervor. Vor seiner Flucht hatte er es abgeschaltet, jetzt schaltete er es wieder ein.
Mit angezogenen Beinen hockte er im Dreck. Die Ratten waren nervös geworden. Ihnen passte die Anwesenheit des Menschen wohl nicht. Ihr Fiepen hörte sich zumindest so an, und er spürte, wie sie über seine Schuhe huschten.
Sein Gesicht verzerrte sich für einen Augenblick. Dabei saugte er die Luft ein, auch wenn sie noch mies war. Er musste seine Hände ruhig halten, nur nicht verwählen. Er flüsterte die Zahlenreihe vor sich hin und wählte. Jetzt hoffte er nur, dass die Person, die er telefonisch erreichen wollte, auch zu Hause war.
Wenn nicht, musste er sich etwas Neues einfallen lassen, und das würde schwer genug sein. Seine Verfolger warteten sicher in der Nähe, denn er glaubte nicht, dass sie aufgegeben hatten. Irgendwo in der Umgebung würden sie auf ihre zweite Chance lauern …
***
An diesem Tag hatten wir lange bei unserem Chef, Sir James Powell, gesessen und mit ihm über den letzten Fall diskutiert, der mich nach Südfrankreich transportiert hatte, und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich war nicht geflogen, sondern durch das magische Horror-Bett dorthin geschafft worden.
Das war vorbei. Ich hatte alles überstanden, meine Templerfreunde ebenfalls. Der gefährliche Henker existierte nicht mehr. Suko hatte dabei eine entscheidende Rolle gespielt, weil er in London mithilfe meines Kreuzes das Bett vernichtet hatte.
Die beiden Menschen, die ebenfalls unschuldig in diesen Kreislauf hineingeraten waren, hatten die Rückreise von Alet-les-Bains ebenfalls hinter sich und würden an ihren Erlebnissen noch lange zu knabbern haben.
Sir James hatte sich unseren Bericht angehört und immer wieder den Kopf geschüttelt. Jetzt waren wir schon so lange im Geschäft, aber die Gegenseite schaffte es stets, uns aufs Neue zu überraschen.
Jetzt trank er langsam sein Glas leer, in dem sich stilles Wasser befand. Wir kannten ihn gut und wussten, dass er, wenn er so reagierte und sich nachdenklich zeigte, noch etwas auf dem Herzen hatte. Da kam manchmal das dicke Ende nach.
So war es auch jetzt. Sir James stellte das leere Glas ab, blickte mich an, nickte und begann zu sprechen.
»Ich habe bewusst gewartet, bis Sie wieder hier in London sind. Es gibt etwas Neues. Ich weiß nicht, ob es schon bekannt ist, glaube eher nicht daran. Der Anruf galt Ihnen. Da Sie nicht hier waren, wurde er an mich weiter geleitet.«
Ich konnte meine Neugierde nicht zähmen und fragte: »Wer hat Sie denn kontaktiert, Sir?«
»Die Nachricht erreichte mich aus Moskau.«
»Oh. Wladimir Golenkow?«
»Nein. Es war …«
Ich war wieder schneller. »Karina Grischin?«
»Ja, sie war es.«
Bei mir läuteten sämtliche Alarmglocken. Ich dachte an meinen letzten Fall in Moskau, der wirklich hart gewesen war. Besonders für Wladimir Golenkow, einem Freund von mir. Er war zugleich der Lebensgefährte von Karina Grischin, einer
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