1704 - Teuflische Abrechnung
genug, um ihn zu halten.
Man musste nicht nur an einen Ausbruch denken, es gab für einen wie ihn auch andere Möglichkeiten, um sich wieder negativ ins Gespräch zu bringen.
Dass er so dachte, lag an seinem Freund John Sinclair, dem Mann, der sich um Fälle kümmerte, die außerhalb des Normalen lagen.
Auch Tanner war schon öfter darin einbezogen worden.
Bisher hatte er diesen Fall allein bearbeitet, aber er schloss nicht aus, sich irgendwann mit dem Geisterjäger in Verbindung zu setzen, sollte tatsächlich etwas passieren …
***
Dass der Lauf der Zeit Menschen dazu bringt, etwas zu vergessen, das traf auch auf Chiefinspektor Tanner zu. London war eine Stadt, die ihn niemals arbeitslos machte. Es passierte immer etwas, und so war Tanner gefordert.
Andere in seinem Alter wären schon längst in Pension gegangen, doch daran dachte Tanner nicht. Auch seine Vorgesetzten wollten ihn nicht abschieben, denn sie wussten, dass sie einen Mann wie ihn kaum ersetzen konnten. Wenn sich Tanner mal in einen Fall verbissen hatte, und das tat er fast immer, löste er ihn auch.
Seine Mitarbeiter gingen für ihn durchs Feuer. Sie hatten sich längst an seine polternde Art gewöhnt, weil sie wussten, dass hinter der rauen Schale ein weicher Kern steckte.
Aber er war auch für seine Leute da, überließ seinen Vertretern immer öfter die Ermittlungen und kümmerte sich nur um die besonderen Fälle, die viel Aufmerksamkeit erregten. Dann stand er an der Front, wie er seit Jahren zu sagen pflegte.
An diesem kalten Novemberabend, an dem der Regen allmählich in Schnee überging, war er mitgefahren, denn man hatte in einem Seitenkanal der Themse eine Frauenleiche gefunden.
Für die Autos des Einsatzkommandos war es schwierig, bis an den Tatort zu gelangen. Die Mannschaft musste den Rest der Strecke zu Fuß gehen. Und zwar von der Kante eines Deichs bis hin zum Ufer, wo die tote Frau ans Ufer gespült worden war.
Niemand wusste genau, ob es ein Mord war. Das würden die Spezialisten feststellen. Tanner hatte eigentlich nicht mitfahren wollen, sein Dienst näherte sich auch dem Ende, und er hätte die beiden Stunden im Büro verbringen können, doch da hatte es eine innere Stimme gegeben, die ihn nach draußen trieb.
Und so rutschte er den Deichhang hinab zum Ufer, wo die Lampen standen und den Tatort beleuchteten.
Der Schneeregen kam von vorn. Einen Schirm hatte er nicht bei sich. Die Krempe des Huts hatte er weit nach unten gezogen, aber sie schützte nicht wirklich gegen die kalten Tropfen, die in sein Gesicht klatschten und dafür sorgten, dass er hin und wieder fluchte und sich dabei selbst einen Narren schalt, dass er sein warmes Büro verlassen hatte.
Die Tote war an Land gezogen worden. Sie lag auf der nassen und weichen Erde. Man hatte eine Plane über sie gedeckt, auf die der Schneeregen klatschte.
Tanner blieb stehen. Seine Mannschaft umringte den Leichnam, und er stellte die übliche Frage.
»Was weiß man bereits?«
Boris Baxter, einer seiner Stellvertreter, meldete sich. »Wir haben noch nicht herausfinden können, ob sie ermordet wurde oder sich selbst umgebracht hat.«
»Und warum stehe ich hier?«
Baxter wand sich etwas verlegen. Auf seinem Kopf saß eine flache Mütze, die völlig durchnässt war. »Ich kann es Ihnen nicht genau sagen, Sir …«
»Dann sagen Sie es ungenau.«
»Natürlich. Als ich die Frau sah, da überkam mich das Gefühl, dass ich sie kennen würde.«
»Und weiter?«
»Ich bin davon ausgegangen, dass auch Sie sie eventuell kennen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Dass wir sie schon mal in einem gemeinsamen Einsatz gesehen haben. Ich kann mich irren, aber ich will sicher sein, und deshalb bin ich froh, dass Sie hier sind.«
Tanner sagte zunächst nichts. Er holte nur schnaufend Atem und dachte dabei an sein Gefühl, das ihn hierher an den Tatort getrieben hatte. Möglicherweise bekam jetzt alles seinen Sinn, aber nicht, wenn die Plane den Leichnam verdeckte.
»Ich will sie sehen.«
Boris Baxter bückte sich und zerrte die Plane zur Seite. Das scharfe Licht leuchtete den Frauenkörper an, der nicht nackt war. Die Tote trug eine lange Hose und einen dicken Pullover, der sich jetzt voll Wasser gesaugt hatte. Das Haar der Toten war blond, sah jetzt aber dunkler aus.
Tanner schaute in das Gesicht, das einer jungen Frau gehörte. Er wollte etwas sagen, doch Baxter kam ihm zuvor, weil er den Blick seines Chefs gesehen hatte.
»Und? Sagt Ihnen das Gesicht etwas?«
»Ich weiß noch
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