172 - Der Sturm
sie heimholen? Hatte Wudan ihre Gebete erhört? War er bereit, Maddrax freizugeben?
Schon verdunkelte sich das helle Rund. Schon kam der Wind zurück, der Lärm, die Angst. Die Luft krümmte sich vor Aruulas Augen wie zu einer vierten Dimension und gab den Blick frei auf ein seltsames Bild. Eine Landschaft, flach und so verschwommen, dass sie sowohl im Sonnenglast als auch unter Wasser liegen konnte. Und in der Ferne…
»Der brennende Felsen!«, flüsterte Aruula. Auf der Oberseite des Massivs flirrte es wie sich windendes Feuer. War das nur eine Spiegelung oder stand er tatsächlich in Flammen?
Die Vision verschwand. Atemlos wandte sich die Barbarin Yngve zu. »Hast du das eben auch gesehen?«
»Habe ich.« Der Telepath nickte. Er fügte noch etwas hinzu, doch seine Stimme erstarb bereits im Tosen ringsum und erreichte Aruula nicht mehr. Das windstille Auge des Zyklons war vorbeigezogen. Leviathans letzter Angriff begann…
***
Epilog
Zwei Wochen später, Hunderte Meilen entfernt Eine sanfte Brise trieb den Dreimaster Richtung Süden; an Sumra vorbei und in die Javasee. Noch immer kamen vereinzelt Seevögel heran und tauchten mit zänkischem Geschnatter nach dem Fischschwarm, der das Schiff seit ein paar Tagen begleitete.
Aruula und Yngve saßen entspannt im Schatten des Großsegels auf Deck, lauschten dem Knarren der Takelung und hingen ihren Gedanken nach.
Es war ein gutes Gefühl, an den Sturm zu denken im Bewusstsein, dass er sie nicht besiegt hatte. Leviathan hatte sie zerschrammt, halb ertränkt und zu Tode geängstigt, doch nun war er fort – und sie lebten.
Der Krieger aus Noorweje schob sein langes blondes Haar zurück. Er warf einen Seitenblick auf Aruula und lächelte. »Du bist eine gute Kriegerin!«
»Woher willst du das wissen?«, fragte sie. Ihr Gesicht wirkte ernst, ihre Stimme nicht. »Der Sturm war kein Feind aus Fleisch und Blut.«
»Dennoch hast du ihn bekämpft.« Yngve legte seinen Arm um die junge Frau, während er weiter sprach. »Du hast Mut gezeigt, klug gehandelt und dich nicht bezwingen lassen. Das macht eine gute Kriegerin aus.«
»Hmm-m.« Aruula zog das Messer des fremden Jungen hervor und hielt den Griff aus Elfenbein hoch.
»Sieh dir mal die seltsamen Zeichen an, die da eingeritzt sind! Was denkst du: Haben sie eine Bedeutung?«
»Möglich.« Yngve nickte. »Ja, könnte sein! Was wirst du mit dem Messer tun?«
Aruula schwieg. Ihr Blick wanderte hinaus aufs Meer und verlor sich in blauer Ferne.
Was werde ich tun? fragte sie sich. Es gibt so viel zu tun!
Aber zunächst muss ich den brennenden Felsen finden, um endlich zu erfahren, warum er uns ruft. Vielleicht habe ich Recht und man findet dort nicht seine Toten, sondern seinen Frieden.
Aruula lehnte den Kopf an Yngves Schulter, und ihre Gedanken kehrten zu dem Jungen zurück, der fast ertrunken wäre. Sie hatte ihn in den Armen gehalten, entschlossen, sein Leben zu retten.
Gib mir den Jungen!, hatte der Fremde befohlen, ohne sich bei ihr für die Rettung zu bedanken. War es überhaupt sein Sohn gewesen?
Sie blickte auf das Messer. Vielleicht war es kein Zufall gewesen, dass sie es von ihm bekommen hatte. Vielleicht war es ein Zeichen der Götter.
»Ich werde ihm das Messer zurückgeben«, sagte Aruula und nickte. »Irgendwann.«
ENDE
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