1723 - Das Templer-Trauma
Schwester Judith seufzte auf. Sie hockte in dem kleinen Schwesternzimmer allein, wie so oft, wenn sie Nachtwache hatte. Sie hatte eigentlich lesen wollen, doch das Geräusch der Schritte störte sie einfach zu sehr, und so dachte sie daran, etwas zu unternehmen. Wenn sie nichts tat, würde der Pater seinen Marsch stundenlang fortführen. Hin und wieder murmelte er dabei Gebete, als wäre er dabei, sich für eine Messe vorzubereiten.
Der schwache Schein einer Tischlampe erleuchtete das Schwesternzimmer. Es war nur ein schmaler Schlauch, aber ein Fernseher hatte noch hineingepasst. Allerdings war der Bildschirm grau. Judith las lieber.
Das konnte sie vergessen, so lange sie das Geräusch störte. Sie blieb nicht mehr länger sitzen, ging zur Tür und dachte dabei, dass sie das Richtige tat. Sie musste eingreifen, sie wollte auch nicht, dass andere Patienten aufwachten.
Der Pater schritt wieder seinen Weg, der für ihn so wichtig war. Wenn er sein Zimmer verließ, dann wandte er sich nach rechts, ging bis zur geschlossenen Flurtür, drehte um und schritt die Strecke zurück. Und das mit der Gleichmäßigkeit eines Uhrwerks.
Im Moment drehte er der Schwester den Rücken zu. Judith sprach ihn auch nicht an. Als er eine bestimmte Stelle erreicht hatte, drehte er sich um. Das geschah mit einer schwungvollen und auch zackigen Bewegung, die man dem über siebzigjährigen Mann kaum zugetraut hätte.
Auch im Flur brannte Licht. Es war gedimmt worden, damit niemand geblendet wurde. Der Pater blickte zu Boden. Hätte er den Kopf angehoben, er hätte die Schwester sehen müssen, so aber starrte er auf seine Zehen und ging dem anderen Ende des Flurs entgegen. Seine Schlappen hinterließen dabei die nervtötenden Geräusche auf dem Boden. Er murmelte etwas vor sich hin und unterstrich die Worte, die er wohl nur selbst verstand, mit einigen Gesten.
Die Schwester löste sich von ihrem Platz und trat dem älteren Mann entgegen. Wahrscheinlich wäre er gegen die Frau gelaufen, wenn Judith ihn nicht angesprochen hätte.
»Hallo, Pater Gerold.«
Der Kopf ruckte hoch. Der Geistliche blieb stehen und strich über seinen Kopf, auf dem das Haar längst weiß geworden war und recht schütter wuchs, sodass die Kopfhaut deutlich durch die Lücken schimmerte.
Judith nickte. Dabei lächelte sie, denn sie wollte den Mann nicht ängstigen. Sie schaute in die hellen Augen und auf die breite Stirn, an deren unteren Ende sich buschige Brauen abzeichneten.
»So spät noch unterwegs?« Sie kannte das Spiel. Es war stets das gleiche Ritual.
»Ja, das bin ich.«
»Und warum?«
Der Pater zog die Augenbrauen zusammen. Er schniefte, bevor er nickte. »Das muss so sein«, flüsterte er. Dann schaute er sich um. »Ich habe sie wieder gesehen. Sie sind nicht tot. Sie sind da, und das muss ich Ihnen sagen. Ich habe schon gebetet, damit ich einen Schutz bekomme, obwohl sie ja nicht alle böse sind.«
»Meinen Sie?«
»Ja.«
»Haben Sie Durst?«
Gerold lächelte. Dabei nahm sein Gesicht einen fast spitzbübischen Ausdruck an. »Wenn Sie mich so fragen, meine liebe Judith, dann muss ich zustimmen.«
»Gut, dann kommen Sie mit.«
»Gern.«
Auch dieses Ritual war immer dasselbe. Es war wichtig, dass sie mit dem Patienten den Flur verließ, damit die anderen Menschen nicht gestört wurden. Der Pater brauchte einfach die Unterhaltung und einen Schluck zu trinken. Es war Tomatensaft, den er gern zu sich nahm, und für ihn stand immer eine kleine Flasche bereit.
Er machte eigentlich einen normalen Eindruck auf jemanden, der ihn nicht kannte. Wer jedoch näher mit ihm zu tun hatte, der dachte anders darüber. Der musste sich seine Erlebnisse anhören von den Personen, die er sah, die zu ihm kamen, um mit ihm zu reden. Es waren die Verstorbenen, die Heiligen und die Teufel, die in Massen die Hölle bevölkerten.
Schwester Judith kannte die Berichte. Am Anfang hatte sie sich vor ihnen gefürchtet, weil er sie so realistisch dargebracht hatte. Das war auch im Kloster geschehen. Dort hatte man dann die Konsequenzen gezogen und den Mitbruder in eine Klinik gegeben, in der sich Fachleute um ihn kümmern sollten.
Das war auch geschehen, doch niemand hatte es geschafft, den Pater von seinen Wahnvorstellungen abzubringen. Er fing immer wieder davon an, besonders in der Nacht.
Tagsüber in den Therapiestunden saß er oft da und schaute ins Leere. Er nahm von den Fachärzten keine Kenntnis, er war stets allein und mit sich selbst beschäftigt.
Meistens
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