1723 - Das Templer-Trauma
sprechen, Pater, dann meinen Sie bestimmt einen Mann, der in einer Zeit gelebt hat, die knapp tausend Jahre zurückliegt.«
»Das ist wohl wahr. Die Kriege liegen lange zurück. Viele sind gestorben.«
»Auch dieser Mann, denke ich.«
»Nein!«
Der Pater hatte die Antwort so heftig gegeben, dass sich die Schwester erschreckte. Sie sagte nichts mehr und starrte ihn nur an.
»Godwin de Salier lebt!«
»Heute?«
»Ja, heute.«
Die Antwort war mit einem großen Ernst gegeben worden. Trotzdem hatte Judith Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Sie nahm ja einiges hin, aber dass ein Kreuzritter heute noch leben sollte, das war für sie einfach zu viel des Guten.
Sie wollte aber ganz normal bleiben und den Mann nicht brüskieren.
»Bitte«, sagte sie, »kann es denn sein, dass jemand über Jahrhunderte lebt? Das ist doch eigentlich unmöglich, denke ich. Oder sehen Sie das anders?«
»Ja, das sehe ich. Es gibt Ausnahmen, meine Tochter. Nicht alles ist gleich. Es gibt wirklich Ausnahmen, ich weiß es. Vielen ist es unbekannt, aber ich kenne mich aus. Er muss Bescheid wissen, und deshalb müssen Sie mir den Gefallen tun und Verbindung mit ihm aufnehmen.«
»Und wo lebt er?«
»In Südfrankreich.«
Judith blieb ernst, als sie fragte: »Und wo genau ist das? Wo lebt dieser Mann?«
»In einem Templer-Kloster. Es befindet sich in dem kleinen Ort Alet-les-Bains. Tief im Süden des Landes. Von dort aus können Sie bei klarem Wetter die Pyrenäen sehen. Der Mann ist etwas ganz Besonderes. Er leitet dieses Kloster …«
»Und er soll ein Kreuzritter sein?«
»Ja, das ist der Fall. Auch heute noch kämpft er gegen das Böse. Und ich weiß, dass er sich in Gefahr befindet. Ich habe die Warnungen vernommen.«
Judith sagte nichts. Sie schaute nur in die Augen des Paters und wusste, dass sie völlig klar blickten. Und so klar schien auch der Verstand des Mannes zu sein.
Sie nickte und sagte zugleich: »Ich werde den Namen des Mannes nicht vergessen.«
»Danke. Und wiederholen Sie ihn.«
»Godwin de Salier.«
»So ist es recht. Und es ist mehr als wichtig, dass ich mit ihm sprechen kann. Ich habe die Heiligen und den Teufel gesehen, ich habe das Böse gespürt, und das ist kein Spaß gewesen.«
»Ja, das denke ich mir, Pater.«
Er lächelte leicht verzückt und sagte: »Jetzt ist mir wohler, viel wohler sogar. Ich glaube, dass ich alles richtig gemacht habe. Ja, das denke ich.«
Sie gab keine Antwort und lächelte nur. Es war auch schwer, etwas zu sagen. Die Geschichte klang einfach zu unglaublich. Das war die eine Seite. Es gab noch eine zweite, und Judith wunderte sich darüber, mit welchem Ernst dieser Pater gesprochen hatte. Als wäre das Unglaubliche eine Tatsache, die sie allerdings nicht glauben konnte.
»Darf ich Sie in Ihr Zimmer bringen, Pater?«
»O ja, danke. Das ist nett, denn ich fange an, leicht zu frieren. Ja, mir wird schon kalt.«
»Und das wollen wir doch nicht.«
»Genau.«
Sie half dem Patienten hoch und ließ seinen Arm auch nicht los, als sie das Zimmer verlassen hatten und über den Flur gingen.
Der Raum, in dem der Patient untergebracht worden war, lag am Ende des Flurs. Es war kein großes Zimmer, für eine Person aber reichte es völlig.
Es brannte ein schwaches Licht und gab einen honiggelben Schein ab, der das Fenster kaum erreichte. Vor der Scheibe hing ein Faltrollo, das geschlossen war.
Der Pater setzte sich auf das Bett. Er schaute sich um, als wäre er dabei, etwas zu suchen. Die Schwester stellte auch die entsprechende Frage, erntete jedoch ein Kopfschütteln.
»Ja, ich weiß, es ist niemand hier.«
Der Pater legte sich zurück. »Im Moment nicht. Aber sie werden wiederkommen, und ein Ritter namens Godwin des Salier muss so schnell wie möglich hier sein.«
»Ich werde mich bemühen, ihn zu erreichen.«
»Danke, ich vertraue Ihnen.«
Judith fasste nach der Decke und zog sie fast bis zum Kinn des Liegenden hoch.
»Ich denke, Sie sollten jetzt schlafen«, sagte sie mit leiser Stimme, »es ist wirklich besser.«
»Sie werden wiederkommen. Sie werden mich quälen, das kann ich Ihnen versprechen. Deshalb müssen Sie so rasch wie möglich Kontakt mit Godwin aufnehmen.«
»Ich tue, was ich kann. Gute Nacht.« Sie lächelte noch mal, dann machte sie kehrt, verließ das Zimmer und zog die Tür so leise wie möglich hinter sich zu.
***
Kopfschüttelnd ging Judith über den Flur zurück zum Schwesternzimmer. Sie war froh, dass es in dieser Nacht so ruhig blieb, denn es gab
Weitere Kostenlose Bücher