1737 - Das Corrax-Rätsel
Mahlzeit werden wir ihnen versalzen. Ich hol’ die Frau jetzt. Ihr bleibt hier und gebt mir Rückendeckung, falls nötig."
Ich war schon auf dem Sprung gewesen, selbst zu gehen, ließ ihn aber gewähren. Es genügte vollkommen, wenn sich einer von uns zwischen die Tobenden begab. Hier, in der Deckung, waren wir wichtiger - für den unwahrscheinlichen Fall der Fälle.
Wir waren eben nicht mehr im Zeitalter der Indianer, wo der edle Retter sich umständlich anschleichen mußte.
Tek erhob sich lautlos in die mondlose Nacht. Wir sahen ihn den Sternen dieses Kugelhaufens entgegensteigen, bis er eine Höhe von etwa fünf Metern erreicht hatte.
„Ich habe Angst", flüsterte Dao-Lin-H’ay plötzlich. Ich hatte den Eindruck, daß ihre Stimme leicht zitterte.
„Um Tek?" fragte ich verwundert. „Er ist in seinem SERUN so sicher wie..."
„...vor den Wilden", unterbrach mich die Kartanin. „Den Corrax. Es ist wie bei Kaghoul, aber viel stärker. Etwas kommt von ihnen, das... so absolut fremdartig ist..."
„Wir sind gleich wieder von hier fort", sagte ich, um Tekener weiter beobachten zu können. „Bis dahin mußt du die Zähne zusammenbeißen."
Sie schwieg.
Tek war inzwischen über dem Dorf. Ein leichter Wind frischte auf. Ihm machte das gar nichts, aber die Feuer wurden kurzfristig stärker und wilder.
Ihre lodernden Flammen tauchten die Kannibalen, die Hütten, die Korallen und Tanghaufen ringsum in gespenstisches Licht, in dem die schatten zu tanzen schienen. Die Kannibalen schienen davon noch stärker berauscht zu werden. Ihr Geschrei wurde wüster, die Trommeln klangen lauter.
„Sie denken eindimensional..." hörte ich Dao flüstern, achtete aber nicht weiter darauf.
Ronald, für uns sichtbar, für die Wilden nicht, ließ sich senkrecht herabgleiten, als er genau über dem Korallenpfahl war, und landete dann ganz genau hinter diesem. Er paßte auf, daß er mit den Stiefeln einige Zentimeter über dem Boden blieb, und gab uns ein Zeichen, daß er keine Probleme erwarte.
Bisher war sein Auftritt auch ein Kinderspiel gewesen. Alles kam jetzt darauf an, wie sich die Gefangene verhielt - ob sie bemerkte, was mit ihr geschah, oder schon so apathisch oder gar bewußtlos war, daß sie überhaupt nichts mehr mitbekam.
Ihr Kopf hing nach unten, und sie regte sich nicht.
Die brutalen Gedankenimpulse der in Massenhysterie tobenden Wilden überlagerte für Dao alles andere; sie fügten der Kartanin anscheinend immer mehr an Qualen zu, die sie nur durch das Wort „fremdartig" beschreiben konnte.
Was sollte ich mir darunter vorstellen?
Ronald Tekener ließ sich auf kein unnötiges Risiko ein. Die Corrax-Frau war mit Seilen, wahrscheinlich aus geflochtenem oder irgendwie sonst von den Wilden bearbeitetem Tang, an den Pfahl gefesselt. Ein Schnitt, und sie war frei, aber dann hätte Tek sie erst packen und mit ihr wegfliegen müssen, und wenn sie sich wehrte, hätten wir wirklich Schwierigkeiten bekommen können.
Deshalb heftete er ihr, ohne sie direkt zu berühren, einen programmierten Mini-Gravopak an, der sich mit selbsttätig ausgefahrenen Riemen an ihr verankerte. Er und wir hielten die Luft an. Dieser Augenblick war entscheidend - dachten wir.
Sie bewegte sich auch jetzt nicht. Entweder merkte sie, daß sie befreit werden sollte, und verhielt sich entsprechend ruhig, oder sie war wirklich ohnmächtig.
Tek winkte uns nochmals zu, obwohl er über Funk auch unbemerkt mit uns hätte reden können, und zog schon sein Vibratormesser, um die Seile zu durchtrennen, als plötzlich der Ton erklang, der die Wilden augenblicklich erstarren ließ: das langgezogene Blasen eines Horns.
Im gleichen Moment hörten die Trommeln zu schlagen auf, und die Kannibalen erstarrten in ihrem rhythmischen, animalischen Tanz um ihr Opfer.
„Was bedeutet das, Dao?" fragte ich, die Waffe in der Hand und bereit, sie zu benutzen. „Verdammt, was geschieht da?"
Sie preßte sich die Hände gegen den Helm und schüttelte nur heftig den Kopf.
Doch da erschien ein weiterer Wilder auf der schaurig erleuchteten Bildfläche, und dieser war auf den ersten Blick nicht nackt. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte ich, daß er sich mit einem dunklen Brei beschmiert hatte, der wahrscheinlich aus dem Tang gepreßt worden war.
„Es wird noch schlimmer!" keuchte Dao. „Ronald, du mußt fort!
Komm endlich! Es ist... so etwas wie... ein Opferpriester dieser schrecklichen Wesen!"
Schreckliche Wesen...
So wie sie das rief, meinte sie damit nicht
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