1754 - Blutige Tränen
worden war. Es sah jedenfalls nicht so aus, denn sie starrte nach unten auf ihre angewinkelten Beine.
Johnny tat erst mal nichts. Er wollte nichts überstürzen. Allerdings kam ihm der Platz dieser fremden Frau schon ungewöhnlich vor.
Sie saß da und tat nichts, als wollte sie sich der Kälte ergeben und erfrieren.
Johnny beugte sich nach unten. Er tippte die Person an. »He, was ist los mit dir? Willst du hier immer hocken bleiben? Oder was soll das alles?«
Zuerst tat sich nichts. Keine Regung bei der Fremden, dann zuckte sie leicht zusammen und sie hob auch den Kopf wieder an, während sie ihn gleichzeitig zur Seite drehte, damit sie den Sprecher anschauen konnte.
Und der sah sie an.
Johnny war schon etwas überrascht. Wer die Frau mit dem grauen Mantel und dem Kopftuch sah, der hätte sie möglicherweise für eine ältere Person gehalten, was jedoch nicht stimmte. Die Gestalt, die vor Johnny auf dem Boden hockte, war noch jung.
»Bist du hergekommen, um hier zu erfrieren?«
»Nein.«
»Dann würde ich dir raten, auf die Beine zu kommen. Dann sollten wir mal reden.« Johnny streckte ihr die Hand entgegen, um ihr so behilflich zu sein.
Sie zögerte noch, seine Finger zu umfassen. Nach einer Weile entschied sie sich dafür. Sie kam langsam hoch und erinnerte dabei an eine ältere Frau.
Dann standen sich beide gegenüber. Das Kopftuch ließ das Gesicht der jungen Frau schmal erscheinen. Johnny schätzte sie vom Alter her auf knapp über zwanzig Jahre.
Sie schauten sich an. Johnny sah die großen Augen, in denen kein Argwohn oder auch nur ein Lauern schimmerte. Aber er kannte sich aus. Er war gewarnt. Schon oft hatte ihm die andere Seite in den vergangenen Jahren die raffiniertesten Fallen gestellt, deshalb war er auf der Hut. Er sah auch, dass es der jungen Frau nicht so schlecht ging, dass sie unbedingt ins Warme musste, und so nahm Johnny sich vor, ihr hier einige Fragen zu stellen.
»Darf ich deinen Namen erfahren?«
»Ja, ich heiße Lilian Block.«
»Ich bin Johnny.«
»Schön.«
Johnny deutete in die Runde. »Und wie ich gesehen habe, bist du zu Fuß unterwegs.«
»Das kann man sagen.«
»Wohin?« Er lachte etwas verlegen. »Es ist ja nicht normal, dass man hier unterwegs ist. Ich meine, als eine Person, die nicht in der Nähe lebt.«
»Stimmt.«
Johnny sprach weiter. »Da ist man an anderen Stellen in London besser aufgehoben.«
»Das denke ich auch.«
»Aber warum bist du dann hier?«
Lilian drehte den Kopf und schaute durch die Lücken im Tor zum Haus hin, und Johnny dachte darüber nach, ob das wohl eine Antwort war.
Deshalb fragte er: »Das ist wohl kein Zufall, dass ich dich hier gefunden habe?«
»Kann sein.«
Jetzt fragte er direkt: »Hast du zu uns gewollt?«
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Schließlich hob sie die Schultern, und damit konnte Johnny Conolly auch nichts anfangen.
»Sag doch was!«
Sie schüttelte zackig den Kopf. »Ich – ich – will nicht zu dir. Nicht zu euch.«
»Wie schön.« Er musste grinsen. »Aber du hast dir den Eingang hier ausgesucht.«
»Ja.«
Johnny hakte noch mal nach. »Obwohl du nicht zu uns gewollt hast?«
»Stimmt.«
Er verdrehte die Augen. »Zu wem hast du dann gewollt, wenn nicht zu meinen Eltern und mir?«
»Zu eurem Besuch.«
Johnny schaltete schnell. »Zu Serena?«
»Ja, genau zu ihr...«
***
Das war die große Überraschung. Damit hatte Johnny nicht gerechnet. Die Antwort hatte ihn sprachlos gemacht. Vergeblich suchte er nach den richtigen Worten, doch er ließ seine Gedanken kreisen und kam sogar zu einem Ergebnis.
Es konnte nicht sein, dass sich bei Serena nichts tat. Sie war eine ungewöhnliche und besondere Person, die nicht einfach in Vergessenheit geraten konnte.
Irgendwie hatte er es kommen sehen. Auch mit seinen Eltern hatte Johnny schon über sie diskutiert, und alle waren der Meinung gewesen, dass Serena etwas Besonderes war, und das nicht nur, weil sie sich als Heilige ansah.
»Hast du mich verstanden, Johnny?«
»Klar.«
»Und?« Ihre Stimme klang jetzt deutlicher. Eine gewisse Anspannung schwang auch darin. »Ist sie in der Nähe? Oder habe ich mich getäuscht? Ich hoffe nicht und...«
»Ja, sie ist in der Nähe.« Johnny hatte sich zu dieser Antwort entschlossen, um endlich zu erfahren, was diese Lilian von Serena wollte.
Lilian wirkte wie erlöst. Plötzlich wurde aus ihr eine andere Person.
Sie konnte nicht mehr an sich halten und musste ihrer Freude freie Bahn verschaffen. Bevor Johnny sich
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