1776 - Blutsüchtig
abwarten.
Sie suchte nach dem kürzesten Weg zum Ausgang. Den gab es auch. Dazu musste sie aber über eine Bank springen.
Wieder schaute sie hin.
Es war genau der Moment, an dem sich alles veränderte. Eigentlich war es nur eine Kleinigkeit gewesen, die aber reichte aus, um ihre Hoffnung wieder aufflammen zu lassen. Sie hatte dort ein Gesicht gesehen.
Das Gesicht eines Mannes, den sie nicht kannte. Der Mann hatte sie mit einem ernsten Blick angeschaut und ihr zugenickt, als wollte er ihr Hoffnung machen. Dann war er wieder verschwunden, denn beim zweiten Hinschauen sah Laurie ihn nicht mehr.
»Was hast du, Laurie?«, zischte die Vampirin.
»Nichts.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Doch, ich habe nichts.«
»He, du lügst mich an. Ich spüre doch, dass etwas mit dir ist. Deine hündische Angst ist weg, und das muss etwas zu bedeuten haben. Rechnest du dir etwa noch Chancen aus?«
Laurie gab keine Antwort. Sie schaute vor sich nach unten und sah, dass ihr linkes Handgelenk nur locker festgehalten wurde. Das war eigentlich die Chance. Eine bessere Möglichkeit würde sie bestimmt nicht bekommen.
Und sie wagte es.
Sie riss sich los, drehte sich sofort um und lief auf den Ausgang zu. Es war das Jetzt oder Nie, und für sie der letzte Ausweg...
***
Es war für uns von Vorteil gewesen, die beiden Frauenstimmen gehört zu haben. So hatten wir uns unbemerkt anschleichen können. Wenig später hatten wir die Frauen zwar noch nicht gesehen, aber die Worte hatten uns genug gesagt. Hier standen sich zwei Parteien unversöhnlich gegenüber.
Wir standen in einem Nebenraum. Ich hatte meine Beretta gezogen und auch das Kreuz offen vor meine Brust gehängt. Wenn wir von der Blutsaugerin gesehen wurden, sollte sie wissen, wen sie vor sich hatte.
Ich hatte die Führung übernommen und stand auch als Erster in der kleinen Reihe. So gelang es mir dann auch, einen Blick in den Nebenraum zu werfen.
Wir befanden uns auf Alice Island. Dort war viel passiert, aber nicht das, was ich jetzt zu sehen bekam. Den Mittelpunkt bildeten zwei Frauen. Beim ersten Hinsehen sah es für den Betrachter so aus, als würden sie sich sehr mögen und sogar lieben. Sie standen dicht beisammen, wobei eine Frau mit ihrer Zunge der anderen über die Wange leckte. Ich erkannte nicht alles, aber ich ging davon aus, dass die Spitze der Zunge Blut ableckte.
Jetzt war alles klar. Ich wusste, wer die Vampirin war und wer zu den Menschen gehörte. Diese junge Frau jedenfalls hatte mich gesehen, und ich hatte ihr einen Wink gegeben, dass sie die Nerven behalten sollte.
Hoffentlich tat sie das auch.
»Was hast du gesehen?«, raunte Harry mir zu.
Ich berichtete es ihm in leisen Worten. Auch Lisa Lürsen hörte zu und zuckte leicht zusammen, als sie erfuhr, dass wir die Vampirin aufgespürt hatten.
»Wie sollen wir vorgehen, John?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich möchte mir durch einen zweiten Blick ein Bild machen.«
»Okay. Haben wir denn freie Schussbahn?«
»Nicht wirklich. Aber lass mich mal schauen und...«
Das war nicht mehr nötig. Wir hörten noch, wie sich der Dialog zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen steigerte, was mich alarmierte.
Ich musste noch mal schauen, streckte den Kopf vor – und zog ihn sofort wieder zurück, denn Laurie Barton rannte auf mich zu...
***
Ich hörte auch den wilden Schrei der Vampirin und dann ihre Stimme, die sich fast überschlug.
»Du kannst hinlaufen, wohin du willst! Du entkommst mir nicht! Warte, ich hole dich!«
Die Blutsaugerin würde eine Überraschung erleben, denn sie würde nicht nur auf ihr Opfer treffen, sondern auch auf drei andere Personen, und eine davon war ich.
Es kam jetzt auf Sekunden an. Die Frau war kaum um die Ecke gelaufen, da packte ich zu und schleuderte sie zur Seite, genau auf Harry Stahl zu, der sie auffing und festhielt.
»Es ist alles okay«, hörte ich ihn noch sagen, »denn wir übernehmen den Rest.«
Was die junge Frau tat, sah ich nicht. Ich musste mich auf die Ecke konzentrieren, um die sie gelaufen war.
»Hör zu, ich komme jetzt!«
Gern hätte ich eine Antwort gegeben, aber ich wollte die Vampirin überraschen und trat nur etwas zurück.
Ihre Schritte konnte jeder hören. Auch ihre wütend ausgestoßenen Laute, die sich wie Atmen anhörten, was sie aber nicht brauchte.
Und dann kam sie.
Ich hatte mir einiges vorgenommen, aber es kam alles anders. Sie rannte mit einem solchen Tempo um die Ecke und dann auf mich zu, dass ich es nicht schaffte, zur
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