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verstreuten Bücher. „Sie liest ‚The Catcher in the Rye’.“
„Sie geht noch in die Mittelstufe?“, fragte Josefine entsetzt.
„Sie hat Bilder von Cezanne an den Wänden, soweit ich das erkennen kann. Mir wird schlecht, glaube ich. Jemand, der Clubs besucht, sollte keine Cezanne-ähnlichen Bilder an den Wänden haben.“
„Sie hat möbliert gemietet. Hat Pat auch gemacht.“
„Pat.“
Über der Spüle war ein Plattencover angenagelt, daneben eine Stahlplatte mit einer Gravur, die ich nicht entziffern konnte. Ich stand auf und zog das Telefonkabel hinter mir her.
„Hier liegt eine zerschnippelte Amerikafahne“, sagte ich.
Sie antwortete nicht. Ich umrundete das Sofa und schob die dicken Vorhänge zur Seite, um auf die Straße zu sehen. Dort unten tat sich nichts. Das war kein erhebender Fensterblick für jemanden, der vielleicht ausgezogen war, um eine revolutionäre Abwechslung von Amerika und Utah zu finden, nahm ich an.
Ich ließ den Vorhang zurückfallen, durchquerte ziellos das Zimmer, schleifte das Telefonkabel hinter mir her und ging weiter zu einer Anrichte, die garantiert auch bereits zum Inventar der Wohnung gehörte, als Sue hier eingezogen war.
„Bist Du noch da?“, fragte Josefine. Über der Anrichte waren einige Fotos mit Stecknadeln befestigt. Ich beugte mich vor, um sie im dämmerigen Licht besser betrachten zu können. Sie zeigten ein junges Mädchen vor pastellfarbenen Einfamilienhäusern, die Arme trotzig hinter dem Rücken verschränkt. Auf den Fotos schien die Sonne. Die Wagen in den Einfahrten waren amerikanische Marken. Der Rasen war ordentlich gestutzt.
Ein anderes Foto war vor einem Wald aufgenommen worden, und dies war das einzige Bild, das ein lächelndes Mädchen zeigte. Neben ihr stand ein junger Mann, etwas älter, aber mit den gleichen Gesichtszügen.
„Sie hat tatsächlich einen Bruder“, sagte ich in den Telefonhörer. Nach einiger Zeit sagte Josefine: „Ich mache mir jetzt einen Kaffee und bin dann wieder da. Ohne mich wird das doch alles nichts dort bei dir.“
Ich betrachtete die Bilder eingehend, doch weitere Informationen schienen sie nicht preiszugeben. Auf dem Regal unter den Fotos lag ein angefangener Brief. Er trug oben rechts das aktuelle Datum. Ihre anfangs saubere Schrift wurde im Verlauf der Seite krakeliger und weiter unten gab es einen Bierfleck auf dem Papier. Neben dem Brief lag ein Flugticket, das für die nächste Woche nach Detroit und weiter nach Missoula ausgestellt war. Ich las den Brief. Er begann mit ‚Gordon!’. Zunächst dankte sie ihrem Bruder für das Ticket. Dann erzählte sie, dass ihre Stimmung wieder besser war. Europa war nicht mehr frustrierend und aufdringlich, sondern aufregend und klasse. Das Ticket, das er ihr vorsichtshalber geschickt hatte, brauchte sie deshalb wohl nicht. Der Stimmungsumschwung kam wegen eines Typen, der immer hellblaue Hosen und gelbe Hemden trug. Er war Deutscher und auch sonst sehr zuverlässig. Sie hatte ihn in einem Club kenngelernt und heute wollte er sie abholen.
„Ich habe auch einen Bruder“, sagte Josefine. Sie war wieder da. Ich legte den Brief wieder an seinen Platz.
„Ich muss mal aufs Klo. Sie schreibt schlechtere Briefe als du“, sagte ich, legte den Hörer zur Seite und ging zur Toilette. Der seltsame Jutesack lag immer noch an seinem Platz im Flur. Ich öffnete die Tür zum Bad und tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Ich fand ihn und das Bad wurde von einer grellen nackten Glühbirne erleuchtet. Ich kniff die Augen zusammen. Das Bad hätte eine Renovierung vertragen können. In dem grellen Licht sah mein Gesicht im Spiegel noch übernächtigter und bleicher aus, als ich befürchtet hatte. An meinem Hals formte sich ein Pickel.
Ich drehte mich um, klappte den Klosettdeckel auf, ließ meine Hose runter und setzte mich. Ich sah eine angebrochene Schachtel mit Haarfärbemittel auf dem Boden liegen. Daneben lag ein offenes Tablettenröhrchen.
„Scheiße“, sagte ich, zog eilig meine Hose hoch und betätigte die Klosettspülung, die ohrenbetäubend gurgelte. Ich löschte das Licht im Bad, durchquerte das schummrige Wohnzimmer und stellte mich dicht vor die Schlafzimmertür.
Ich klopfte leise und rief wieder ihren Namen. Ich klopfte lauter. Ich rief ihren Namen in normaler Zimmerlautstärke. Ich ergriff die Klinke und drückte sie herunter. Die Tür ließ sich öffnen, im Zimmer war es stockdunkel. Das hereinfallende Kerzenlicht zeigte die Konturen eines Bettes mitten
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