Zwölf im Netz
VORSPIEL IN EPHESUS
Im zweiten Jahre der Regierung des Kaisers Nerva und im ersten seines Mitregenten Ulpius Traianus vollendete Johannes, der letzte noch lebende Jünger Jesu, zu Ephesus sein Evangelium. Er ahnte nicht, daß dieses Jahr später als das Jahr 97 nach Christi Geburt bezeichnet werden würde. Und hätte ihm jemand prophezeit, sein Name werde einst in unzähligen Sprachen — als Hans, Jean, John, Juan, Giovanni und Iwan zum Beispiel — unzähligen Kindern in der Taufe gegeben, er hätte ungläubig den Kopf geschüttelt. Noch zählten die Christen nur wenige hundert, allenfalls tausend in der Halbmillionenstadt, die durch das Heiligtum der Göttin Artemis zu weltweiter Berühmtheit und durch die Tüchtigkeit ihrer Kaufleute zu bedeutendem Wohlstand gelangt war.
Doch nicht im säulengeschmückten Zentrum der Metropole Asiens finden wir ihn, auch nicht in den lärm- und stauberfüllten Vorstädten, sondern in einer verlassenen Fischerhütte am Ufer des Kaystros, der unweit der Stadt in eine Meeresbucht mündet. Dorthin zog ersieh zurück, um in der Stille sein Lebenswerk zu vollenden. Der einzige Mensch, der für Stunden seine Einsamkeit teilte, war Polykarp, von Freunden nur Poly gerufen, ein Gymnasiast aus Ephesus, dem er sein Buch in die Feder diktierte und der ihm auch das wenige mitbrachte, was Johannes zum Leben brauchte. Beide saßen sie auf umgestülpten Fischkisten, der Junge mit übergeschlagenen Beinen, auf denen das Schreibbrett ruhte, der Alte mit verschränkten Armen.
»So, mein Kind«, sagte der Alte, und es klang sehr befriedigt, »das war der letzte Satz. Setz einen dicken Punkt darunter und lies ihn noch einmal vor!«
»Der letzte Satz schont«, fragte der Junge enttäuscht, las aber folgsam vor, was ihm Johannes diktiert hatte: »Das ist der Jünger, der hiervon Zeugnis gibt und der dies geschrieben hat, und wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist. Punkt. Ist das wirklich schon der letzte Satz? Haben Sie nicht mehr zu sagen?«
»Freilich hätte ich noch mehr zu sagen«, verteidigte sich Johannes. »Aber wenn wir alles aufschreiben, hätte die Welt keinen Platz für die Bücher, die wir schreiben müßten. He, Poly, was kritzelst du so eilig auf die Tafel?«
»Nur Ihren letzten Satz, Johannes, den von den Büchern, für die kein Platz da wäre. Ich find ihn zwar ein wenig übertrieben, aber...«
»Den streichst du sofort wieder aus«, gebot der Alte verstimmt, »der gehört nicht ins Buch. Das war eine persönliche Bemerkung von mir.«
»Das wird sich schon herausstellen. Überlassen Sie das mir!« Polykarp klappte die Schreibtafel zusammen und lachte dem Alten fröhlich ins Gesicht. »Oder soll ich's wirklich wieder ausstreichen, Johannes?«
»In Gottes Namen, laß es, wie es dasteht. Doch jetzt troll dich nach Hause, bevor du neue Dummheiten machst. Und richte bitte deinem Vater meinen verbindlichsten Dank aus dafür, daß er dich wochenlang zum Schreiben herauskommen ließ.«
Die fröhliche Miene des Jungen verfinsterte sich. »Dem sag ich kein Wort.«
»Hat er dir nicht die Nachmittage großzügig freigegeben?«
»Doch nicht für Sie — fürs Training.«
»Das sagst du mir erst jetzt?«
»Immer noch früh genug«, entgegnete Polykarp, »Sie wissen doch, was für ein Sportnarr er ist. Er möchte unbedingt einen Superathleten aus mir machen. Am liebsten einen Olympiasieger. «
»Und ich dachte immer, er schickt dich dem Evangelium zuliebe her. Trotzdem, so sehr ich dir danke, daß du deine Zeit für mich geopfert hast, deinen Vater solltest du meinetwegen nicht anschwindeln.«
»Er will's doch gar nicht anders. Immer möchte er bestimmen, wohin ich gehe, was ich tue und mit wem ich zusammen bin. Nur wenn ich das Training vorschütze, läßt er mich einen halben Tag aus dem Haus, der sture Bock. «
»Poly!« tadelte Johannes ihn scharf. »So spricht man nicht von seinem Vater.«
»Er hört's ja nicht«, sagte Poly ausweichend. »Fragen Sie mal, wie er von mir spricht. Wenn er tobt, daß die Fensterscheiben zerspringen.«
»Und was macht dann deine Mutter?«
»Die kehrt die Scherben zusammen.«
Johannes konnte nur mühsam ein Lachen verbeißen, ihm kam das alles sehr bekannt vor, doch es galt, pädagogische Haltung und die Solidarität der älteren Generation zu bewahren. Er versuchte, das verfängliche Thema zu wechseln.
»Wie stellt sich denn die Mutter deine Zukunft vor?«
»Die sieht mich schon als hohen Beamten im Dienste des Reiches, mit großer Wohnung,
Weitere Kostenlose Bücher