1801 - Die Herreach
hast errechnet, daß für diese Schneise bei günstigstem Verlauf 5500 Hütten niedergerissen .werden müssen?"
„Das stimmt."
„Also wie kommst du auf den Gedanken, der Zirkel, könnte diesem Irrwitz zustimmen?"
„Nun, durch ein Rechenexempel. Sämtliche Gassen und Straßen in Moond sind permanent verstopft.
Neue Hütten können nicht errichtet werden, da sie zusätzlich die Verkehrwege verstopfen würden. Wenn wir aber die MoondBahn errichten, dann werden diese Räume automatisch frei. Die Zahl der Hütten, die neu gebaut werden könnten, wird etwa die Zahl der abgerissenen Bauten ausgleichen. Und das bei grundlegend verbesserter Verkehrslage."
Presto Go ließ den zahnlosen Mundschlitz die ganze Zeit offenstehen. Sie konzentrierte sich sehr. „Und in der Zwischenzeit?" fragte sie plötzlich. „Wie gleichen wir den Verlust an Schlafplätzen aus, während gebaut wird?"
„Gar nicht", mußte der DampfkraftMagier zugeben. „Für eine gewisse Zeit wird die Verelendung der Stadt deutlich zunehmen."
Er beobachtete die Mitglieder des Zirkels sehr genau. Unter den Herreach hatten Elend, Krankheit, Enge nie den Ausschlag gegeben. Hunger oder Tod, wer interessierte sich dafür? In den meisten Fällen nicht einmal die Betroffenen.
Und da war sie auch schon, die eigentlich entscheidende Frage: „Könnte es sein, daß die Moond-Bahn uns beim Transport der Pilger hilft?"
Prudd Hon gab ein amüsiertes Geräusch von sich. „So ist es", antwortete er. „Wenn die Bahn fertiggestellt ist, wird sie einen Großteil der Pilger aus den Straßen fernhalten. Wir bauen eine Haltestelle außerhalb der Stadt, am großen Fernbahnhof. Kleine Pendelzüge könnten die Schienen der Stadtbahn benutzen."
„So ..."
Die Mahnerin und die anderen Zirkler schauten gedankenvoll; für Prudd Hon genau der Augenblick, um seinen Auftritt zu beenden. Er ließ die Pläne liegen, damit sie dem Organisationszirkel zur Verfügung standen, und verabschiedete sich bis zum Ende der nächsten Schlafperiode.
Moond-Bahn! Was für ein erhabenes, riesengroßes Ziel für eine riesengroße Stadt!
Er nutzte die Zeit, über Presto Go Erkundigungen einzuziehen. Daß sie ein berechnendes, bestimmendes Wesen hatte, das wußte er nun aus eigenem Erleben. Daß sie aber mehrere Herreach getötet hatte, um zur Mahnerin aufzusteigen, das war ihm neu. Er wunderte sich, daß der oberste Künder eine solche Herreach in seinem Umkreis duldete.
Zum angekündigten Termin betrat er das Steingebäude am Taumond-Ufer, in dem der Zirkel residierte.
Presto Go erwartete ihn bereits.
Sie ließ ihn schmoren, bis er vor Nervosität mit den Füßen scharrte. „Wir werden die Bahn errichten", sagte sie dann. „Es gibt jedoch eine Bedingung, Magier: Das Projekt muß in so kurzer Zeit wie möglich abgeschlossen werden, damit der Pilgerbetrieb zum Kummerog-Tempel sowenig wie möglich gestört wird."
„Das wird nicht einfach sein", fürchtete Prudd Hon. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir die Fertigstellung der Bahn noch erleben werden."
Die Mahnerin erwiderte: „Da bin ich völlig anderer Meinung. Es wird nicht länger als ein viertel Lebensalter dauern."
„Unmöglich."
Presto Go zog ärgerlich das Nas-Organ nach oben. „Wir werden sehen. Ich habe mit dem obersten Künder gesprochen, der Cleros stellt sich hinter das Projekt."
*
Prudd Hon zog sich vollständig aus der Eisenbahn-Produktion zurück. Statt dessen verwendete er seine Kräfte auf die Errichtung der Bahn.
Als wertvolle Helferin erwies sich Presto Go, die im übrigen das Projekt benutzte, um ihre eigene Stellung im Cleros zu festigen. Sie betrieb eine eiskalte Machtpolitik, er dagegen war nur an der Vollendung der Bahn interessiert und kümmerte sich um andere Dinge wenig.
Nachdem die Schneise längst gezogen war, kam der Einwand auf, eine mit Braad-Ziegeln betriebene Stadtbahn werde die Luft noch mehr verpesten. Die Arbeit lief dennoch weiter. In absoluter Rekordzeit entstand der komplette Schienenstrang. Und um die Züge, die auf solchen Schienen fahren konnten, kümmerte sich der Dampfkraft-Magier wiederum persönlich.
Die Moond-Bahn stand in weniger als einem viertel Lebensalter, wie von Presto Go vorhergesagt. Es war die größte kollektive Anstrengung, die das Volk der Herreach je vollbracht hatte. Die vielen Opfer, die Toten und Verletzten aus dem Baubetrieb, sie alle kümmerten im nachhinein nicht mehr. Nur der Tempelbetrieb zählte, und der war störungsfrei vonstatten
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