1813 - Kriegsfeuer: Roman (German Edition)
Arme.
Unendlich erleichtert ließ sich Henriette gegen ihn sinken, und nun schossen ihr die Tränen in die Augen.
»Komm, setz dich!«, forderte der Oheim sie auf und führte sie behutsam zum Tisch.
Johanna tätschelte erneut tröstend den Rücken ihrer Nichte, während ihr Mann wortlos nach einem Taschentuch suchte und es dem Mädchen reichte.
Friedrich Gerlach war ein zutiefst friedliebender Mensch, der mit seinen Druckwerken Bildung und humanistische Ideale verbreiten wollte. Dass das Leben seiner Nichte in den letzten Tagen so gewaltsam aus den Fugen geraten war, schmerzte ihn über alle Maßen und machte ihn hilflos.
Er würde mit ihr reden müssen, damit ihre Seele nicht noch mehr Schaden nahm. Aber nicht jetzt. Er wollte sie nicht bedrängen. Jette kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sie ihn jederzeit um Rat fragen konnte. Sollte sie entscheiden, wann sie dazu bereit war. Im Moment hatte er ja selbst noch keine Antworten, sondern war einfach nur erleichtert, dass sie und Franz überlebt hatten.
Henriette brauchte eine Weile, bis sie sich gesammelt hatte. Dann schneuzte sie sich kräftig und sah mit verquollenen Augen auf.
»Ich weiß, ihr habt es schwer in diesen Zeiten«, schniefte sie. »Aber ich kann mir mein Brot verdienen. Ihr habt jetzt bestimmt nicht mehr genug Leute in der Druckerei. Ich kann dort arbeiten … oder Bücher verkaufen …«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, protestierte die Tante sofort. »Was sollen denn die Leute von uns denken? Dass wir deine Notlage ausnutzen und dich wie eine Magd hier schuften lassen?«
»Wieso nicht?«, widersprach ihr Mann mit beschwichtigender Stimme. »Vielleicht wird ihr ein bisschen Ablenkung guttun. Du weißt doch, wie gern sie die Zeit in der Setzerei verbracht hat, wenn ihre Familie bei uns zu Besuch war.«
Die Begeisterung, mit der sich seine Nichte schon als Kind immer wieder zeigen ließ, wie aus einzelnen Lettern Wörter, Zeilen und ganze Seiten wurden, ihre Ehrfurcht und Leidenschaft für Bücher hatten ihn schon lange für sie eingenommen. Sie war genauso eine Bücherverrückte wie er, viel mehr als seine Söhne, die einmal das Geschäft übernehmen sollten. Deshalb mochte er sie so.
Sie erinnerte ihn an seine Mutter, die auch Bücher geliebt hatte. Aber ihr Vater hatte sie als Elfjährige von der Schule genommen, weil jener meinte, es gehe zu weit, wenn nun auch noch die Mädchen lesen und schreiben lernten. Henriette sollte es besser haben und lesen und schreiben dürfen, so viel sie wollte! Er wusste, sie besaß Talent dazu, denn mit Freude verfolgte er ihre ersten zaghaften Versuche. Und wenn in den nächsten Tagen – was Gott und Blücher verhindern mögen! – Freiberg wieder in französische Hände fiel, dann waren sicher jede Menge Extrabulletins und Tagesbefehle zu drucken.
Tatsächlich brachten seine Worte ein wenig Hoffnung in die Augen des Mädchens.
»Aber nicht gleich morgen!«, schränkte er ein. »Erst einmal wirst du deiner Tante helfen müssen, ein paar Kleider für dich umzuarbeiten, damit du nicht darin versinkst wie in diesem.«
Mit einem gutmütigen Lächeln wies er auf das Ungetüm von einem Morgenmantel. »Und du wirst dich nach den Strapazen ein paar Tage ausruhen. Lange schlafen und dich satt essen.«
»Aber ja!«, stimmte Johanna ihrem Mann aus vollstem Herzen zu. »Und einen Hut brauchst du und neue Schuhe!«
Vor allem, so dachte Johanna, sprach es aber nicht aus, brauchten die Kinder jetzt ein bisschen normales Leben nach dem Grauen der letzten Tage. Etwas Schönes, etwas zur Ablenkung. Schon stand sie auf, lief zur Tür und rief mit durchdringender Stimme nach Lisbeth.
»Wir nehmen das gute Service und das Silberbesteck heute Mittag«, beschied sie der Köchin, und beide Frauen dachten dabei in stiller Übereinkunft den Satz schon weiter: Bevor wir es morgen verstecken müssen, weil die nächste Einquartierung kommt. Wenn wirklich die Franzosen zurückkehren, werden sie sich bestimmt dafür rächen wollen, wie wir hier den Preußen und Russen zugejubelt haben. Gott steh uns bei!
»Natürlich«, brummte Lisbeth zustimmend. »Dass das Fräulein und der junge Herr erst einmal richtig aufgepäppelt werden müssen, sieht ja ein Blinder.«
Die zwei lagen ihr ehrlich am Herzen. Was sie durchgemacht haben mussten, die armen Dinger!
»Ich konnte ein Huhn auftreiben, davon koche ich ein feines Ragout, und als Dessert gibt es Grießpudding mit Apfelmus«, stellte sie in Aussicht. »Für ein
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