183 - Die Stadt Gottes
Hustenanfall geschüttelt wurde. Sie hob den Kopf: Die Welt versank in Nebel und Rauch. Sie stemmte sich auf die Knie und blickte zur Mauer: Staub senkte sich über eine Mauerlücke von der Breite eines großen Hauses. In Schutt und Geröll und zwischen reglosen Körpern wälzten sich Verwundete. Sabreena hörte sie um Hilfe rufen.
Irgendjemand rief irgendeinen Gott an, irgendjemand verlangte das Tor zu öffnen, und jemand schrie: »Feuer!«
Aus den Dachstühlen einiger Häuser nahe der Mauer schlugen Flammen. Und plötzlich ertönten die Dampfdruckfanfaren der Rev’rends. Sabreena hielt sich die Ohren zu.
***
Rev’rend Blood, der mit weltlichem Namen Gnatius Yola hieß, blickte andächtig zur Stadtmauer. »Es ist vollbracht, meine lieben Brüder.« Der Erzbischof der Rev’rends lächelte milde. »Das Heilige Nitro hat seinen Dienst getan und ein Loch in die Mauer und auch eine Menge Feinde des HERRN in den Schlund der Hölle gerissen.«
»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren.« Der ernste, meist wortkarge Marty Luder – er trug den Kampfnamen Rev’rend Rage – stieg auf sein schwarzes Horsay. »Lasst uns gehen, um die Sünde und die Dämonen aus der verdorbenen Stadt zu vertreiben!« Er klopfte auf den Kolben seiner Feuerwaffe. Der Bischof der Gottesmänner winkte seine Brüder und den Erzbischof hinter sich her und gab seinem schwarzen Tier die Sporen.
Rev’rend Rage fiel rasch in einen gestreckte Galopp.
Der kahlköpfige Diakon Rev’rend Sweat ritt neben ihm.
»Preiset den HERRN!«, rief er. »Die Hölle soll zittern!«
Dicht hinter ihnen preschte der Schimmel des weißgekleideten Rev’rend Flame, und neben ihm donnerte der Rhiffalo des Bischofs über den Grasboden.
»Vertraut dem HERRN, meine Brüder!«, rief Rev’rend Blood. »Die Feinde des HERRN mögen viele sein, doch ER streitet auf unserer Seite!«
Hinter dieser Vorhut jagten sechs Gespanne der Mauer entgegen. Die Dampffanfaren auf den beiden Maschinenwagen dröhnten, die Kurbelgewehre brüllten ihr Ratatata, und die Gebetsrufe der Gottesmänner erfüllten die feuchtkalte Luft.
Die Erde zitterte unter dem Hufschlag der schweren Reittiere und dem Rattern der eisenbeschlagenen Räder.
Von der Stadtmauer her sirrte den Himmelskämpfern kein Pfeilschwarm entgegen, nicht ein einziger Wurfspieß bedrohte die Rev’rends, und in der Mauerlücke und auf dem Wehrgang zeigte sich auch nicht ein Verteidiger, nicht ein Schwertkämpfer, Bogenschütze oder Speerwerfer.
Und dann geschah es: Das Westtor wurde aufgezogen.
Rev’rend Rage riss sein Pferd herum und galoppierte der unverhofften Einladung entgegen. Frauen und Männer strömten aus dem Tor, riefen: »Willkommen!«, »Endlich!« und »Heil den Befreiern von Waashton!«
»Vorsicht, Brüder!«, brüllte Rev’rend Blood vom Rücken seines Rhiffalos aus. Mit seinem Feuerrohr zielte er auf den Mauerabschnitt über dem offenen Tor. »Denkt an das Wort des Apostels: Der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen kann!«
Der Erzbischof der Rev’rends traute dem Frieden nicht.
»Seid vorsichtig, es könnte eine Falle sein!«
Rev’rend Rage zügelte sein Horsay und setzte seine Waffe ab. Sicher, er war überrascht, doch die Mienen der Menschen, die ihm da entgegenliefen, überzeugten ihn schnell: Das waren keine Betrüger, das waren ehrlich erleichterte Gesichter; Menschen, die reinen Herzens nach Rettung und Erlösung dürsteten.
Marty Luder, der Gottesmann mit dem Kampfnamen Rev’rend Rage, hob die Rechte. »Macht langsam, Brüder!«, rief er. »Diese Menschen meinen es ehrlich! Sie haben uns das Tor aus lauteren Motiven geöffnet!«
Die Rev’rends stoppten ihre Horsays und Wagen.
Immer mehr Männer und Frauen versammelten sich vor dem Westtor der Stadt. Ein rothaariger dicker Mann mit goldenen Ohrringen verbeugte sich vor der Vorhut der Rev’rends. Rev’rend Rage hatte ihn zwei Nächte zuvor vom Wagen des Erzbischofs steigen sehen. »Es ist alles bereit, Rev’rend Blood und Rev’rend Rage. Im alten Rund der Spiele werden die Menschen euch erwarten!«
***
Sie benutzten den Schacht, der zum alten Ausstieg in der Bibliotheksruine führte. Dort gab es eine der wenigen Schleusen, die sich nach dem Energieausfall vor fünfzehn Monaten noch manuell hatten öffnen lassen. Alexandra Cross war nervös; sie war lange nicht mehr an der Erdoberfläche gewesen. Früher, vor dem Energieausfall, hatte sie solche gefährlichen Ausflüge gemieden. Nur im
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