Braut von Assisi
Prolog
S pring!«
Da war sie wieder, jene Stimme, die sie bis in den Traum verfolgte! Fordernd klang sie, so streng und gebieterisch, dass es keinen anderen Ausweg zu geben schien. Sie spürte, wie ihr Körper sich schon fügen wollte. War ihr in all den endlosen Jahren der Gefangenschaft Gehorsam nicht ohnehin zur zweiten Natur geworden?
Zweimal nur hatte sie dagegen aufbegehrt, zunächst, als die Säfte der Jugend so machtvoll in ihr aufgestiegen waren, dass sie geglaubt hatte, an dem Unerfüllten ersticken zu müssen, das ihr für immer verwehrt bleiben würde. All das strenge Fasten, der tagtägliche Verzicht und die heimliche Qual, die andere ihr vorlebten, um von ihr geliebt zu werden, hatten für sie niemals getaugt. Beinahe rasend war sie damals geworden, zweifelnd an der seit jeher vertrauten Welt, verzweifelnd an dem, was in ihr vorging.
In der Stunde der größten Verlassenheit, als Trauer und Hoffnungslosigkeit ihre Sinne schon umwölken wollten, war dann der Engel erschienen, ein Retter, der ihr ganzes Leben verändern sollte, hatte ihr Trost geschenkt und ein Sehnen, das niemals wieder enden sollte. Erst da hatte sie gespürt, an welch brennendem Durst sie gelitten hatte.
Doch welch Unglück war aus dieser Erfüllung erwachsen!
Ein paar atemlosen Wochen der Seligkeit waren bald die Furcht, schließlich die entsetzlichste Gewissheit gefolgt,
die sie wieder zu jenen zurückgetrieben hatte, denen sie entflohen war. Die folgenden Monate hatte sie vollkommen vergessen gehabt, aus dem Gedächtnis gelöscht, als seien sie niemals geschehen – bis vor Kurzem, als sie sich wieder in ihr Bewusstsein geschmuggelt hatten wie etwas Versunkenes, das sich nach und nach aus seiner festen Vertauung auf dem Meeresgrund löst und unaufhaltsam nach oben trudelt, um endlich ans Licht zu gelangen.
Sie war eine Sünderin, das wusste sie, und hatte die strengste Buße dafür auf sich genommen, auch wenn diese ihren Körper taub gemacht, ihr Gesicht verwüstet und ihr Herz leer wie ein zerfleddertes Vogelnest zurückgelassen hatte. Inmitten all der Frömmigkeit war kein Raum für Vergebung gewesen. Im Gegenteil, sie hatte sich wie ein fauliger Apfel gefühlt, der unaufhaltsam weiter verrottete, unwürdig, von der Heiligkeit zu zehren, die die anderen speiste.
Die Zeit heilt alles, das hatte sie die anderen oftmals sagen hören. Außer der Wahrheit, das hatte sie inzwischen am eigenen Leib erfahren müssen. Wahrheit kann schmerzen und pochen wie ein Geschwür vor dem Aufbrechen, wenn sie mit Füßen getreten wird, so lange, bis man ihr Genüge tut und das Lügengespinst zerreißt wie ein mürb gewordenes Spinnennetz.
Von einem Tag zum anderen war sie aus der Blindheit erwacht. Ein hingeworfener Satz, niemals für ihre Ohren bestimmt, hatte ihre Lethargie beendet und die Jägerin in ihr erwachen lassen, eine Jägerin mit spitzer Feder, die ab sofort nichts mehr dem Zufall überlassen würde …
»Spring!«
Jetzt schmeichelte die Stimme, klang gurrend und verführerisch wie laue Sommerluft auf nackter Haut, eine berauschende Erinnerung, die plötzlich wieder ganz lebendig
war, als läge kein halbes vergeudetes Leben dazwischen.
Sie spürte, wie ein großes, lautes Lachen in ihr aufstieg, ebenso verboten wie all das andere, das hinter ihr lag. Wie listig sie doch alles eingefädelt hatten, um sie in ewiger Blindheit zu halten! Die ganze Stadt kannte inzwischen die fromme Legende, hegte und liebte sie und erzählte sie getreulich den Kindern weiter, die ihr gespannt lauschten, insgeheim voller Erleichterung, dass ihnen ein ähnliches Schicksal erspart geblieben war.
Doch dabei würde es nicht länger bleiben, dafür hatte sie gesorgt. Ihr Handgelenk war steif, so sehr hatte sie sich anstrengen müssen, um auf Pergament zu bringen, was endlich alle erfahren sollten: dass sie niemals Vergebung erlangen konnte, weil die Sünde schon in ihr war, bevor sie geboren wurde.
»Du wirst nichts spüren, das verspreche ich. Der Aufprall dauert nur einen Lidschlag. Und dann: Ruhe. Frieden. Also zögere nicht länger – spring!«
Im Nacken glaubte sie, seinen Atem zu spüren. Einbildung? Oder war er wirklich schon so nah gekommen?
Ihre Hände wurden klamm. Sie spreizte unwillkürlich die Finger. Noch gehorchten sie ihr, ließen sich öffnen und wieder schließen. Doch ihr Geist, das konnte sie deutlich fühlen, hatte sich bereits auf eine weite Reise begeben.
Sie breitete die Arme weit aus.
Mit dieser Geste hatte der Engel sie
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