1842 - Ein kleiner Freund
erklärte sie stolz. „Mein Bruder."
Mortimers Augen wurden größer. „Ich wußte gar nicht ...", begann er überrascht, wandte sich wortlos um und hastete weiter.
„Mach dir nichts draus!" sagte Ilara zu Jack. „So sind die Erwachsenen eben."
Die Kabine des Expreßlifts war bis auf den letzten Platz belegt. Ilara wollte schon zurücktreten, als überraschend eine Frau ausstieg.
„Ihr beide wollt nach oben", sagte sie. „Bitte, fahrt mit! Ich kann warten."
Bevor Illie recht verstand, was geschah, zog Jack sie mit sich. Gleich darauf verließen sie den Lift zwei Etagen unterhalb ihrer Wohnung.
„Wir müssen vorsichtig sein", mahnte Ilara, allerdings weniger an Jack als an sich selbst gerichtet.
Sie fürchtete wieder, daß Ron oder Dinnie ihren neuen Freund gar nicht gerne sehen würden. Als sie das Mädchen von außerhalb des Silos mitgebracht hatte, war es auch so gewesen. Welchen Aufstand hatte ihr Vater damals gemacht, nur weil Isola als vermißt gemeldet worden war!
Ilara wählte das Treppenhaus, um auf die Wohnetage zu gelangen. Für gewöhnlich begegnete sie auf der Treppe niemandem, auch diesmal war es so.
Sie versteckte Jack in einer der Grünanlagen. Von hier aus konnte er die Straße sehen und die Einmündung des Korridors, der nach dreißig Metern zur Wohnung führte.
„Bleib hier, Jack, beweg dich nicht vom Fleck! Wenn die Luft rein ist, bin ich gleich zurück und hole dich. Aber falls einer meiner Eltern da ist, müssen wir warten, bis ich dich holen kann. Verstehst du?"
Sie hatte den Eindruck, daß Jack zustimmend nickte. Auch wenn er sich selbst nicht ausdrücken konnte, verstand er doch alles, was sie sagte.
Es fiel ihr schwer, Jack allein zu lassen. Ein Gefühl der Leere machte sich in ihr breit, daß sie am liebsten auf der Stelle umgekehrt wäre und ihn doch mitgenommen hätte. Ilara mußte sich zum Weitergehen zwingen. Es fehlte nicht viel und sie hätte losgeheult.
Sie glaubte zu spüren, daß Jack hinter ihr herstarrte. Zweifellos erging es ihm ähnlich. Es war schön zu wissen, einen Freund zu haben, der sie brauchte.
Mutter war zu Hause. Sie schien gewartet zu haben. Jedenfalls öffnete sie die Tür, bevor Ilke den Kontakt auslösen konnte.
Zwei steile Falten standen auf Dindras Stirn, dicht über ihrer Nasenwurzel. Das bedeutete wenig Gutes.
Immer wenn Dinnie sich geärgert hatte, und meist war Ilara der Anlaß dafür, erschienen diese Falten.
„Wo warst du?" empfing sie ihre Tochter.
„Ich ..." Fieberhaft suchte das Mädchen nach einer halbwegs glaubwürdigen Ausrede, wurde aber sofort unterbrochen.
„Bemüh dich nicht, Ilara! Ich weiß, daß du den Hort verlassen hast, ohne dich abzumelden. Aber so geht das nicht. Ich bin enttäuscht, Illie ..."
„Ich habe nichts angestellt, Mum. Ehrlich nicht."
„Warum hast du dich davongeschlichen?"
Ilara preßte die Lippen aufeinander.
„Schade", sagte Dindra. „Ich hatte geglaubt, daß ich mich auf meine Tochter verlassen kann ..."
„Das kannst du, Mum. Ich ..."
Ein Ausdruck der Überraschung erschien auf Dindras Gesicht. Fast gleichzeitig löste sich ihre Anspannung und machte einem nachsichtigen Lächeln Platz. Ihr Blick ging an dem Mädchen vorbei und verlor sich im Korridor. Dann beachtete Dindra ihre Tochter nicht einmal mehr, sondern schob sie sanft zur Seite und trat einige Schritte nach vorne.
Als sie sich umwandte und sah, was die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf sich zog, durchlief es Illie siedendheiß. In dem Moment wäre sie am liebsten im Boden versunken oder hätte sich unsichtbar gemacht. Sie riß Mund und Augen auf und hatte Mühe, das aufkommende Zittern zu unterdrücken. Daß ihr das Blut ins Gesicht schoß, spürte sie überdeutlich.
Der Ärger war perfekt. Wie hatte sie glauben können, daß Jack wirklich allein zurückblieb und auf sie wartete?
Er kam langsam näher: „Wer ist das?" stieß Dindra hervor. Ihre Stimme vibrierte merklich.
Ich weiß nicht, wollte Illie spontan sagen, sie empfand plötzlich Furcht vor ihrer eigenen Courage, und vor allem verstand sie gar nicht, was überhaupt geschah. Doch ihre Lippen formten andere Worte.
„Das ist Jack", hörte sie sich sagen, und die Erleichterung darüber, daß die Heimlichtuerei endlich vorbei war, folgte auf dem Fuß. „Jack ist ... mein Freund."
„Wie lange kennst du ihn schon?"
„Seit zwei Tagen."
Für einen Moment wirkte Dindra wieder ärgerlich. Ihre Lippen bebten. Irritiert schüttelte sie den Kopf.
„Warum hast du nichts
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