1848 - Zerrspiegel
jetzt nicht weitermachten, würden sie vielleicht nie wieder zu einer Gebetsrunde zusammenfinden. Ihre Fähigkeiten würden verkümmern.
Die oberste Künderin hatte aber noch ihren Glauben, und sie wußte, daß es auch andere Herreach gab, die mit Leidenschaft ihrer Aufgabe nachgingen. Wenn sie es nicht allein schaffte, dann vielleicht mit vereinten Kräften.
„Sprich mit deinen Freunden, Yai, und halte sie zusammen. Wir sind Tausende von Herreach, die gegen einen einzigen, unfaßbaren Feind vorgehen! Wir können es schaffen, aber wir brauchen Mut dazu. Wir müssen uns jetzt beweisen. Wenn wir das nicht tun, wird es kein Volk der Herreach mehr geben."
Caljono Yai versprach, alles zu tun. Presto Gos letzter Satz hatte sie getroffen.
Sie mußten ihre Identität bewahren. Von niemandem war Hilfe zu erwarten; die hier stationierten Terraner waren verrückt geworden, und von draußen, von Raumschiffen, kam keine Anfrage, keine Botschaft.
Sie waren auf sich gestellt.
Presto Gos Entschlossenheit übertrug sich auf sie. Diese gab sie weiter an Vej Ikorad, Tandar Sel und alle anderen.
Die Vertreter der Neuen Realisten und der Herrachischen Freiatmer sprachen daraufhin zu ihren Anhängern, ebenso wie Presto Go zu den Clerea.
Bisher war noch nichts allzu Erschütterndes geschehen; es gab keinen Grund, bereits aufzugeben. Sie Mußten weitermachen und sich dem Unbekannten stellen.
Wenn es sie nicht direkt angriff, dann mußten sie es eben herausfordern und aus der Reserve locken.
Dann konnten sie das Fremde erfassen und es bannen!
*
Die Herreach setzten die Gebetsrunden fort. Die schwirrenden Enacho konnten ihnen tatsächlich nichts mehr antun. Sie erschienen noch einmal, sausten durch die Reihen der Betenden, aber ohne Spuren zu hinterlassen. Ihr Piesacken wurde nicht mehr gespürt, kein Stoff ging in Fetzen. Schließlich lösten sie sich auf, noch bevor die Trance beendet war.
Nach diesem ersten kleinen Sieg schöpften die Herreach leise Hoffnung, aber Presto Go warnte vor einer verfrühten Euphorie.
Damit sollte sie nur allzu recht haben, wie sich bald zeigte. Das Fremde ließ sich dadurch weder entmutigen noch aus der Reserve locken; es besaß mehr Macht als angenommen, und die spielte es jetzt aus.
Die schwirrenden Enacho waren nur das Vorspiel gewesen, gleichsam eine letzte Warnung für die Herreach, was auf sie zukommen würde, wenn sie nicht aufgeben wollten.
Es wurde schlimmer, als jeder Herreach es sich jemals hätte ausmalen können. Sie spürten die Bedrohung täglich wachsen. Das grauenvolle Fremde nahm. von ihnen Besitz, rührte an ihrem tiefsten Inneren und nahm ihnen jede Möglichkeit zur Flucht.
In den Nächten fanden sich häufig ganze Gruppen zusammen, darunter war oft Caljono Yai. Obwohl sie sich selbst ständig Mut machte und vorhatte, mit Verstand gegen ihre Alpträume anzugehen, wurde sie trotzdem heimgesucht. Sie konnte ihrer Angst nicht Herr werden.
Viele Herreach liefen nachts verstört durch die Straßen. Von anderen Schlaflosen, die sich rechtzeitig aus dem Grauen geflüchtet hatten, wurden sie aufgegriffen und beruhigt. Nirgendwo mehr ging das Licht aus, und viele bemühten sich, noch die kleinsten Winkel auszuleuchten. Der Blick über die Schulter, das Zusammenzucken über plötzliche Geräusche wurde zum normalen Bild. Tagsüber verließen viele Herreach schreckerfüllt die Gebetsrunden, nur um in immer größere Panik zu geraten.
Boten berichteten Presto Go, daß sie mehrere tote Herreach außerhalb der Ruinen gefunden hätten, die Gesichter in furchtbarem Grauen verzerrt. Waren sie an ihrer eigenen Angst gestorben, oder hatten sie sich gegenseitig umgebracht? Es war nicht mehr festzustellen.
„Wir können nicht mehr fliehen", verkündete die oberste Künderin daraufhin allen Anhängern. Noch immer waren es fast 10.000. „Wir müssen uns jetzt dem Fremden stellen, aber nicht allein, sondern gemeinsam.
Wir müssen uns weiterhin in Trance versammeln und unsere vertrauten Gefährten erschaffen, vor allem den Riesen Schimbaa! Sein Mut und seine Kraft werden uns beschützen und dem Fremden beweisen, daß es keine Macht über uns hat!"
Aber die Angst saß bereits zu tief. Jeder beobachtete den anderen, ob er als nächster die Nerven verlieren würde. Sie zögerten, sich die Hände zu reichen, denn sie wußten nicht, was dann mit ihnen geschehen würde. Presto Go rüttelte sie immer wieder auf, ermahnte sie, nicht nachzugeben, befahl ihnen, sich in Trance zu versetzen und
Weitere Kostenlose Bücher