1848 - Zerrspiegel
sie. Ein Zeichen von Schwäche war immer der Beginn des Abstiegs.’ Nachfolger würden sich bereit machen, Presto Gos Stelle einzunehmen, sie vielleicht sogar töten.
*
Am Morgen zeigte sich die oberste Künderin energiegeladen und entscheidungsfreudig wie immer. Die gläubigen Herreach waren anwesend und nahmen die erforderliche Position für die Sitzung ein.
Presto Go glaubte zu wissen, wie sie nun vorgehen mußte; ein Wesen wie der .angstgeborene Axamit durfte nicht noch einmal erschaffen werden!
Wieder übernahm sie die Regie der Gebetstrance, leitete die Herreach langsam hinab und führte sie behutsam auf den Weg. Sie vertraute voll auf ihre jahrzehntelange Erfahrung und ihr hochentwickeltes Talent.
Sie war sicher, daß sie diese vielen tausend Herreach allein anleiten konnte.
Und versagte, weil sie ebenfalls eine Herreach war und keine Maschine. Ihr Verstand und ihr Wissen waren eine Sache, ihr Instinkt aber eine andere. Im Wachzustand konnte sie alle Emotionen unterdrücken, aber in der Trance war ihr mentales Bewußtsein frei, und Gefühle konnten ungehindert hineinfließen.
Die fremde Macht hatte in ihren Schrecken nun vermutlich den Höhepunkt erreicht und zeigte den Herreach, daß sie sie fest im Griff hatte.
Während dieser Sitzung wurde das furchtbarste aller Wesen geboren, der schreckschreiende Gumbuda.
Die Trance der Herreach war bereits sehr tief, der leise Gesang vieler steigerte sich zu einem intensiven Summen, viele Gestalten sanken in sich zusammen.
Ein Flimmern entstand in der Luft, ein diffuses Leuchten, das sich rasch verdichtete und zu gewaltiger Größe anwuchs.
Und dann wurde es zu einem Ungeheuer: einem gigantischen, unbeschreiblichen Monster, sechsmal größer als der Riese Schimbaa, grauenvoller als der angstgeborene Axamit.
Wie ein rasender Sturm brach es brüllend und tobend in die Gebetsreihen der Herreach ein, schleuderte die Betenden wie Puppen durch die Gegend und schrie. Nicht einfach irgendein Schreien, sondern so grausam wie die Zusammenfassung aller Foltern, die Verkörperung aller Schrecken. Das unbeschreibliche Schreien steigerte sich zu einem ungeheuren Crescendo, grauenvoll und vernichtend.
Herreach starben unter konvulsivischen Zuckungen, Blut schoß aus Augen, geschwollenem Nas-Organ und schlitzförmigem Mund. Manche wurden förmlich von innen her zerrissen.
Die übrigen Betenden, die diesem schrecklichen Sterben zusehen mußten, waren so entsetzt, daß ihre Konzentration unterbrochen wurde.
Erst dann erlosch das furchtbare Wesen nach und nach ...
*
„Presto Go, ich werde nie mehr an einer Gebetsrunde teilnehmen, solange das Fremde um uns ist!"
Caljono Yai war in das Gemach der obersten Künderin gestürmt, ohne sich angemeldet zu haben.
Die Gebetsrunde der Herreach hatte sich in Chaos aufgelöst. Viele waren vor Erschöpfung zusammengebrochen; die meisten liefen verwirrt herum. Sie wußten nicht, was sie tun sollten. Bedingt durch die Katastrophe waren sie heftigen Emotionen ausgesetzt, die sie in dieser Intensität nie zuvor erfahren hatten.
Der Tod anderer Herreach machte sie nicht so sehr betroffen, schließlich endete das Leben stets. Aber nicht auf diese Weise! Das Sterben war es, das ihnen solches Entsetzen bereitete, dieses Sterben, verursacht durch ihre eigenen Gebete! Diese Gebete der Herreach waren immer für etwas Gutes gewesen, um Kummerog zu sehen, um zu versuchen, den Tempel zu öffnen, um für Frieden und Ausgeglichenheit zu sorgen ...
Seitdem das Unbekannte um sie herum war, hatten sie nur noch Alptraumgeschöpfe erschaffen, die sich nun sogar gegen ihre eigenen Schöpfer gewandt und sie getötet hatten.
Caljono Yai, durch die Zugehörigkeit zu den Neuen Realisten und die Kontakte zu den Terranern sensibler als andere, wollte sich keinem neuerlichen Schrecken mehr aussetzen. Es war nicht Angst allein, sondern das Entsetzen um die furchtbaren Dinge, die um sie herum passierten.
„Red keinen Unsinn!" sagte die oberste Künderin scharf. „Benimm dich nicht wie ein Kind!"
„Aber ..."
„Kein Aber, Mahnerin! Es geht hier um Wichtigeres als um deine lächerlichen Gefühle. Oder bist du schon so zur Terranerin geworden, daß du davonläufst wie sie?"
„Warum sagst du das?"
„Um dich auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen und dir bewußt zu machen, wer du bist!"
Die junge Mahnerin schwieg verwirrt.
Dann flüsterte sie: „Wie sollte ich das jemals wieder können, wenn er dort draußen ist
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