19 - Am Jenseits
empor. Sie legte ihr einstiges Sehnen nach Glück in die Hände der ewigen Liebe und erhielt es als Erhörung für das ihr anvertraute, fremde Volk zurück. Sie teilte, obgleich selbst ungeliebt, diese Liebe aus vom Gletschereis ihrer Höhe herab nach allen Seiten. Für sich auf alles gleißende Erdengut verzichtend, wurde sie in schlichter Anspruchslosigkeit eine Spenderin der Güte, die im Verborgenen wirkt. Als Fürstin angefeindet und in frostige Einsamkeit geschoben, war heimlich sie die Barmherzigkeit und Segen spendende Mutter der Bedürftigen. Ein jeder ohne stille Wohltat vollbrachter Tag erschien ihr als verloren. So gingen ihre Jahre hin, und nun sie von der Erde scheidet, umstrahlt kein fürstlicher Pomp ihr einsames, gemiedenes Sterbelager. Nur eine einzige, treue Dienerin kniet unter herzbrechendem Schluchzen dort und betet, betet laut und erschütternd, obgleich ihr bei jedem Wort die Stimme versagen will. Sie allein hat die sterbende Fürstin verstanden und geliebt; sie war die vertraute Zeugin ihrer Leiden, die verschwiegene Botin ihrer Wohltätigkeit. Nur sie weiß es, was die geliebte Herrin ihrem Volk war, nur sie! Doch nein, nicht nur sie! Es gibt außer ihr noch Einen, der alles sieht und kennt, den allwissenden Erforscher der Herzen und Gedanken. In Seinem Buch stehen all die zahllosen Bitterkeiten, die sie auf dem schweren Pfad der Entsagung hinabzukämpfen hatte, alle Angriffe, die sie in gottergebenem Verzicht auf Gegenwehr erduldete, aber auch die ganze Fülle der Liebe, welche sie über die Armen und Bedrängten ausgegossen hat, für alle Ewigkeit verzeichnet. Jetzt, im Augenblick des Abschiedes, klingt das Schluchzen der neben ihr Betenden aus immer weiterer Ferne in ihr Ohr, und so verschwindet vor ihr auch die Zeit des Duldens und des unverschuldeten Leidens. Zu ihren Seiten tauchen die schönen, goldenen Jugendtage wieder auf und vor ihr die in himmlischer Liebe lächelnden Engel, welche ihr dort an der Waage der Gerechtigkeit entgegenwinken. Ich sage dir, der irdische Thron war ihr ein Marterstuhl, wie er es so vielen um ihn Beneideten ist, aber was sind alle diese Qualen gegen die Herrlichkeit jenseits des Tores da drüben, wo aus jedem Augenblick des einstigen Herzeleids und aus einer jeden einzelnen ihrer Liebestaten ihr ein unerschöpflicher Bronn der Seligkeit entgegenfließen wird! Vom allwissenden Vater im Himmel wird keine Sekunde des Leides und keine noch so heimlich geweinte Träne seiner Kinder vergessen!“
Da rief der Münedschi freudig aus:
„Ich sehe, du hast recht! Jetzt sieht sie die Engel winken; sie breitet die Arme nach ihnen aus und beflügelt ihre Schritte. Die andere auch, die mit ihr geht!“
„Diese war eine Tochter der ärmsten Dürftigkeit“, erklärte Ben Nur. „Ihre Kindheit war Hunger, Verachtung und Arbeit. Sie hat nie das Auge einer liebenden Mutter gesehen und vom harten Vater nur die unbarmherzig schlagende Hand gefühlt. Unter fremde Leute geworfen, diente sie treu und ehrlich, doch stets nur bei herzlosen Menschen, und als sie glaubte, ein Herz gefunden zu haben, dem sie sich anvertrauen dürfe, und sich ihm zu eigen gab, da war es ein roher, ein gefühlloser Mann. Er frönte dem Spiel, dem Trunk und andern Lastern; er haßte die Ordnung, die Arbeit und jede ihn bindende Pflicht. Sie mußte schaffen und sorgen für ihn und die zahlreichen Kinder, und tat es still und ergeben, als sei's ihr nicht anders beschieden. Doch, was sie mit eigener Entbehrung durch rastlose Arbeit errang, das floß bei ihm durch die Gurgel, fiel im Spiel andern zu. Sie sah keine Frucht ihres Fleißes und hielt doch nicht auf, sich zu mühen, denn sie glaubte, es seien die Kinder ein Segen des Himmels, dem sie durch treue, mütterliche Pflege sich würdig zu erweisen habe. Da starb der Mann. Sie begrub ihn; sie weinte an seinem Grab; sie trauerte um ihn, ohne ihm einen Vorwurf in die Grube nachzusenden. Dann aber schienen sich ihre Kräfte für die Kinder zu verdoppeln. Sie nährte sie besser als vorher; sie schickte sie in die Schule; sie gab sie in die Lehre; sie sorgte für ihr Fortkommen und hatte kein Wort der Klage über die Nächte, in denen sie bei der stillen Lampe saß, um viel, viel mehr zu tun als ihre Pflicht. Die Söhne nahmen sich Frauen, die Töchter Männer; die Mutter arbeitete weiter. Es stellten sich Enkel ein; da gab es noch viel mehr zu sorgen. Was sie da alles tat, tat sie nicht für sich selbst, doch niemand dankte ihr. Man nahm es nicht nur als
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