19 - Am Jenseits
Meineid und Fahnenflucht verachtete er, aber vom Militär hat er sich lossimuliert! Raub und Erpressung hielt er für die schändlichsten der Taten, aber Bücher hat er unter anderm Titel und unter vorsichtiger Veränderung der Namen nachgedruckt und seine Arbeiter gezwungen, sich für ihn für geringeren Lohn zu schinden, weil sie nur von ihm abhängig waren! Falschmünzerei oder falsches Gewicht war bei ihm nicht zu finden, aber die Geschäftsgeheimnisse seines Mitbewerbers hat er ausgespürt, und seinen Kunden verkaufte er Wasser in der Milch und das Fleisch verendeter oder krank gewesener Tiere! Bestechung gab es nicht in seinem Amt, doch die Stelle, welche er zu vergeben hatte, bekam der Schützling seines Freundes, aber nicht der ihrer Würdige! So waren diese alle äußerlich rein, aber innerlich voll Schmutz. Nun mißt die Waage dort nicht den äußern, sondern den innern Menschen. Denkst du auch jetzt noch, daß diese Reinen glücklich über die Brücke kommen werden?“
Der Münedschi antwortete:
„Mir ist das Herz zum Brechen schwer! So viele, viele, viele ich bisher gesehen habe, es war kein einziger unter ihnen, den du der Gnade Allahs für wert gehalten hast. Soll denn der Abgrund alle, alle verschlingen? Soll ich mich denn nicht wenigstens über einen, nur einen einzigen freuen, der drüben an das Tor der Seligkeit gelangt?“
„Sie waren der Gnade Gottes nicht würdig, weil sie nicht nach ihr gestrebt haben. Wer auf seine vermeintlichen Verdienste pocht und dafür den verdienten Lohn, aber keine Gnade fordert, der wird auch keine finden. Aber ich bemerke, daß dein Wunsch in Erfüllung geht. Sag mir, was du jetzt siehst!“
„Es kommen zwei Frauen, ganz allein, nebeneinander; die eine ist sehr schön, die andere sehr einfach gekleidet. Dann eine Strecke hinter ihnen folgt eine unabsehbare Schar von Männern und Frauen, denen aber kein Panier vorausgetragen wird. Es sind auch viele, viele Kinder dabei. Und nun flammt es plötzlich dort drüben über dem Tor der Seligkeit hell leuchtend auf, so daß hier bei uns die bisherige Düsterkeit wie ein heller, schöner Tag erscheint. Ich sehe, daß die Engel diesem Zug in freudiger Erwartung entgegenblicken. Sollte er aus Glücklichen bestehen, denen es beschieden ist, den Himmel zu erreichen!“
„Ja; ihnen ist er bestimmt! Du hast gehört, daß du dich hier mitten in der Zeit des Sterbens befindest. Das helle Licht des Jenseits dringt plötzlich zu uns herüber; die Todesstunde derer, die jetzt kommen, ist eine glückverheißende; sie wird von der Morgenröte des ewigen Himmelstages überflutet. Die, welche sich Standarten vorantragen ließen, stellten Forderungen an Gott; sie verlangen hier den himmlischen Lohn für ihre eingebildeten irdischen Vorzüge und Tugenden. Die aber jetzt erscheinen, sind solcher Selbsttäuschung und Überhebung fern. In der Erkenntnis ihrer Mangelhaftigkeit nähern sie sich in zagender Demut der Waage der Gerechtigkeit, und den Demütigen gibt Gott Gnade. Für sie ist die ihnen entgegenleuchtende Freude der Engel schon im Sterben der Beginn der Seligkeit.“
„Wer sind die beiden Frauen?“ fragte der Blinde.
„Es sind Heldinnen des Herzeleides, des Duldens. Eine Fürstin und eine Arbeiterin, standen sie, die eine auf der höchsten und die andere auf der niedrigsten Stufe des Erdenlebens, einander so fern, daß keine die andere kannte; aber so verschieden die Arten und die Wege des Lebens sind, sie führen alle vor der großen Entscheidung der Todesstunde zusammen. Die Fürstin war ein liebes, heiteres Kind, welches mit frohen Augen in die verheißungsvolle Zukunft blickte; es waren ja alle Vorbedingungen irdischen Glücks vorhanden. Da aber griff die Staatskunst mit eiserner Faust in ihr bisher holdes Geschick. Man entriß sie den liebenden Eltern und Geschwistern und brachte sie, die sich vergeblich Sträubende, in ein fernes Land, zu einem fremden Volk, an die Seite eines Herrschers, dem nie ihr Herz gehören konnte. Ihr goldener Jugendtag war dahin; die Sonne des irdischen Glücks verschwand. Kalte Pflichten begannen, mit furchtbarer Last auf ihr warmes Herz, ihr weiches Gemüt zu drücken; nur schwer fand sie Atem für ihre nach Verständnis und Liebe verlangende Seele. In diesem Gefühl des Erstickens schrie sie zu Gott, und er sandte ihr den Engel des Glaubens als reitenden Boten. Aus den Höhen des Himmels floß ihr die Kraft, den Pflichten der Erde zu leben; darum strebte dieses Leben auch wieder zu ihm
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