19 - Am Jenseits
für sie eingetragen werden! Ich sehe Priester, welche nicht bloß Lehrer des Wortes, sondern Verkündiger und Täter des Geistes im Worte, wirkliche Prediger der Liebe waren. Ihnen ist es gegeben, das Lob des Herrn erklingen zu lassen in alle Ewigkeit! Ich sehe Gewaltige der Erde, welche gütige Väter, weise Erzieher und freundliche Beglücker ihrer Völker waren. Wahrlich, ich sage dir, im Jenseits werden sie über mehr gesetzt werden, als sie diesseits beherrschten! Ich sehe den Millionär, welcher der Barmherzigkeit sein Vermögen widmete, und den Bettler, der mit dem Straßenhund sein letztes Stück Brot teilte. Ich sehe die Gründer großer Armen- und Waisenhäuser und den kleinen Knaben, welcher dem dürstenden Vöglein Wasser gab. Ich sehe Fürstinnen und Prinzessinnen, welche, von der Glorie irdischer Erhabenheit umgeben, aus ihrem hohen Kreis heraustraten, um herniederzusteigen und als Huldspenderinnen der Liebe zu walten. Glaube mir, der Herr aller Himmel wird ebenso herabsteigen wie sie und ihnen diese Güte tausendfältig lohnen! Ich sehe edle Frauen, welche sich nicht schämten, die Hütten der Armen, der Kranken, der Witwen und Waisen zu besuchen und den Verachteten zu zeigen, daß auch sie Brüder und Schwestern in der großen, die ganze Menschheit umfassenden Familie des Allvaters seien. Du darfst überzeugt sein, daß sie nun dort an der Waage für würdig befunden werden, zur Familie der Seligen zu gehören! Ich sehe Seelen, deren bloße Anwesenheit die Wirkung hatte, als ob ein warmer, tröstender und beruhigender Sonnenstrahl mit ihnen hereingekommen sei. Es ist ein Himmelsglück, daß es solche Menschen gibt; sie werden im Jenseits noch viel heller strahlen als während ihrer diesseitigen Pilgerzeit! Ich sehe Richter, welche selbst in dem ärgsten Verbrecher noch den Menschen suchten, um so mild wie möglich sein zu dürfen, Betrogene, Bestohlene, Beleidigte, welche nicht nur vergeben, sondern sogar vergessen konnten. Gott wird auch ihnen ein milder Richter sein und ganz so vergeben und vergessen, wie sie es taten! Ich sehe unter dieser Schar auch Künstler, deren Streben es war, in ihren Werken die wahre Natur, die Übermacht des Guten und Schönen über das Böse und Häßliche, also die Offenbarung Gottes im Menschen, des Himmlischen im Irdischen nachzuweisen. Sie wühlten nicht wie andere mit Wollust im Schmutze; sie machten nicht unter dem irrigen Vorgeben, wahr sein zu müssen, die Roheit und das Laster zur Staffel ihres Ruhmes, denn sie wußten, daß die Sünde nicht die Wahrheit, sondern ihre abstoßende Verneinung ist. Die Kunst ist nur dann wirklich Kunst, wenn sie nach dem Edlen auch auf edlem Wege strebt. Wer da glaubt, er könne dem Hohen durch die Darstellung des Niedrigen dienen, der versteht die Aufgabe nicht, die ihm von Gott, dem Urquell des höchsten Könnens und also auch aller Kunst, geworden ist! Ich sehe ferner Freunde, welche wahre, ehrliche Freunde waren. Sie hielten, wenn es nötig war, nicht mit der bitteren, heilsamen Wahrheit zurück, standen aber auch mit ihrem ganzen Haben und Können für die Freundschaft ein! Ich sehe Väter, welche die Schwäche nicht mit der Liebe verwechselten, sondern ihrer Pflicht mit wohlabgewogener Gerechtigkeit walteten, obwohl dies ihrem Herzen oft nicht leicht geworden ist. So ein Vater hat seinen Sohn nicht moralisch totgelobt oder durch nachsichtige Schwachheit selbst zum Schwächling gemacht und seine Tochter nicht zu einem Weib erzogen, welches für seinen Beruf verloren ist! Und ich sehe Mütter, denen die Kinder nicht als herausgeputzte Gegenstände eitlen Stolzes und überhebender Prahlsucht dienten, sondern denen sie das waren, was sie jeder Mutter sein sollen: Seelenblumen, von Gott dem Elternhaus anvertraut um, von des Vaters Hand begossen und von dem Mutterauge bestrahlt, zum Himmel emporzuwachsen. Sei versichert, daß solche Eltern an solchen Kindern nicht nur im Diesseits Freude erleben, denn bei solcher aufwärts strebender Pflege steigen Vater und Mutter selbst mit himmelan!“
Nach diesen Worten trat wieder, wie schon einmal, eine Pause ein, während welcher der Münedschi leise, für uns unverständliche Worte vor sich hin murmelte. Dann hörten wir die Stimme Ben Nurs wieder laut sagen:
„Nein, du darfst nicht länger hier verweilen; die Zeit ist abgelaufen. Komm!“
Ich behielt den Blinden aufmerksam im Auge. Er griff mit der Rechten zu, als ob er eine Hand erfasse, und ahmte mit der Linken leise die Bewegung des
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