19 - Am Jenseits
als ob es erst vor einigen Minuten geschehen wäre. Das Stimmengewirr wurde nämlich von einem lauten, ja überlauten, schrillen Schrei unterbrochen. Hanneh hatte ihn ausgestoßen. Sie saß mit blutleeren Wangen und weit aufgerissenen Augen da und deutete mit der Hand nach der Gegend, nach welcher auch ihr vor Schreck starrer Blick gerichtet war. Wir sahen hin. Es erklangen mehrere Schreie, nicht Hannehs, sondern der Haddedihn; dann aber trat die tiefste, allertiefste Stille ein.
Das, was wir sahen, wäre uns vorher so undenkbar gewesen, daß unser jetziges Erstaunen, welches nahe an Schreck grenzte, allerdings keiner Erklärung bedurfte. Khutab Agha nämlich, der Totgeglaubte, lag nicht mehr an seiner Stelle; er war aufgestanden und kam mit sehr langsamen, taumelnden Schritten auf uns zu! Wir mußten uns ja wohl sagen, daß dies auf ganz natürliche Weise zugehe, daß sein Tod eine Täuschung gewesen sei, und doch gab es wohl wenige unter uns, die sich nicht einer Art von Grauen zu erwehren hatten! Wir dachten gar nicht daran, aufzustehen; wir blieben alle, alle sitzen, so groß war der Einfluß, den das Wiederaufleben des Erschossenen auf unsere Bewegungsnerven ausübte.
Mit blutleerem Gesichte, aber bluttriefendem Gewand kam er uns Schritt um Schritt näher, zuweilen den Kopf hebend, den Mund öffnend und mit der Hand nach dem Herzen greifend, als ob ihm das Atmen schwer werde. Dabei wankte er bei jedem Schritt wie ein Kind, welches noch nicht die Fertigkeit des Gehens besitzt. Da sprang ich denn doch auf, um ihn zu unterstützen. Er aber hob die Hand, winkte mir ab und sagte:
„Bleib – – –! Ich – – –! Ich will – – – neben – – – neben – dir sitzen!“
Das klang so dumpf, so hohl und doch so mit Gewalt herausgepreßt! Ich blieb stehen, bis er da war, bis er bei mir stand und sich bückte, um sich niederzusetzen. Er verlor dabei das Gleichgewicht und wäre vornüber gestürzt, wenn ich ihn nicht gehalten hätte. Dann kam er mit meiner Hilfe zum Sitzen, und ich setzte mich an seine Seite. Niemand hatte ein Wort gesagt, und auch jetzt schwiegen alle. Ich hatte eine ganze Menge von Worten und Fragen auf der Zunge, behielt sie aber zurück, denn ich sah ihm an, daß er nicht wünschte, jetzt angeredet zu werden. Woran ich das merkte, das weiß ich nicht mehr oder hätte es vielleicht auch schon damals nicht sagen können. Er hatte, auch ganz abgesehen von seiner blutigen Kleidung, etwas Fremdes, Geisterhaftes an sich, was keine Neugierde aufkommen ließ, sondern zum Schweigen mahnte. Wenn er sprach, bewegte er bloß die Lippen; das Mienenspiel schien erstarrt zu sein. Auch seine Augen waren nicht dieselben wie vorher; sie hatten das Aussehen, als ob ihr Blick vor Angst, vor Entsetzen gestorben sei.
Ich suchte die Stelle, wo die Kugel eingedrungen war. Das Loch befand sich genau in der Gegend des Herzens. Da mußte er doch tot sein! Und doch war zwar die Kleidung blutig, aber es schien kein Tropfen mehr zu fließen! Jetzt wendete er mir das Gesicht zu und sagte mit tonloser Stimme:
„Effendi, ich war dort!“
„Wo?“ fragte ich, indem ich eine Art von Grauen fühlte.
„Dort!“
Er senkte den Kopf, hob ihn nach einer Weile wieder und fügte hinzu:
„Wo der Münedschi mit Ben Nur war!“
„In der Phantasie?“
„Nein, wirklich!“
„Das kann doch nicht sein!“
„Es ist so, Effendi! Ich bin soeben erst von dort zurückgekommen! Da wachte ich auf und sah mich im Blut liegen. Es fiel mir ein, daß ich erschossen worden bin, und fragte mich, ob ich gestorben oder lebend sei. Ich dachte nach, und da kam ich zu der Überzeugung, daß ich nicht mehr tot sei, denn ich bin ja nun wieder ich allein und nicht mehr ich und mein Leib.“
„Ich verstehe dich nicht.“
„Vielleicht lernst du mich erst dann verstehen, wenn du gestorben bist. Ich weiß nicht, wie ich es deutlich machen soll. Mein Sterben war folgendermaßen –“
Er legte wieder beide Hände auf das Herz, holte tief und schmerzlich seufzend Atem und fuhr dann in der Weise fort, wie er auch bis zu Ende sprach, nämlich als ob ein schwerer Druck auf ihm, auf seinem ganzen Innern und auch auf seiner Stimme liege:
„Ich sah dich mit den Beni Khalid ringen; ich sah, daß der Ghani seine Pistole auf mich richtete und schoß; ich hörte den Schuß und fühlte die Kugel in mein Herz dringen. Doch schnell war dieser Schmerz vorüber, denn nur der Körper fühlt diese Art von Schmerz; ich aber war nicht mehr in
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