19 - Am Jenseits
Waage der Gerechtigkeit dachte, stand ich sofort vor ihr. Ich wußte, daß sie es war, sah sie aber nicht. Ich wußte auch, daß viele, viele Seelen sich bei mir befanden, konnte sie aber weder sehen noch hören, denn meine Seele hatte nur mit sich selbst zu tun. Ihr Denken, Fühlen und Tun war mit ihr eins, war sie selbst. Außer ihr gab es nichts, als sie selbst und ihr vergangenes Leben. Und dieses Leben war doch auch wieder nur sie selbst. Es lag nicht außerhalb von ihr, nicht in der Vergangenheit, sondern sie war das Produkt und zugleich der Inbegriff alles dessen, was sie getan, gedacht und empfunden hatte, so wie zum Beispiel das Meer das Ergebnis und zugleich die Summe all der unzähligen Tropfen ist, welche hineingeflossen sind. Ebenso war meine Seele. Die Quellen, Rinnsale, Bäche, Flüßchen, Flüsse und Ströme, das waren die Stunden, Tage, Wochen und Jahre meines Lebens. Das Wasser in ihnen, das waren die der Prüfung entgegenfließenden, zahllosen Tropfen meiner Regungen, Entschlüsse und Ausführungen, und das große Meer selbst war meine Seele, in welcher jeder einzelne dieser Tropfen lebte und sich geltend machte. Es fehlte nichts, kein einziger von ihnen allen. So war ich selbst dieses Meer, diese Seele; ich selbst bestand aus allen diesen Tropfen, für welche es kein Maß und keine Ziffer gibt, und doch erkannte ich sie alle, alle, alle! Dieses Erkennen geschah nicht mit dem Auge, dem Ohr, dem Gefühl, nicht mit irgendeinem Sinn, denn ich stand ja nicht außerhalb mir selbst, und doch wußte ich alles, und doch begriff ich alles, denn ich war ja dieses alles selbst. Ich kann euch das nicht sagen, nicht beschreiben; der Ausdruck mangelt mir, und indem ich vergeblich danach suche, stelle ich das jetzt Gesagte mit dem Früheren in Widerspruch. Diese Unklarheit gab es vor der Waage nicht, sondern es herrschte da eine Deutlichkeit, für welche der Ausdruck ‚zum Erschrecken‘ wenig, ja viel zu wenig sagt. Ich kannte jedes, aber auch jedes Wort, welches ich in meinem Leben gesprochen habe, mochte es nun nützlich, schädlich oder gleichgültig sein. Aber diese Bezeichnung ‚gleichgültig‘ ist eine irdische; vor der Waage der Gerechtigkeit gibt es nichts Gleichgültiges, denn nichts, keine Silbe, kein Laut kann ohne Wirkung bleiben, weil er in einem Zusammenhang steht, welcher unzerreißbar ist. Ich kannte auch jede noch so leise Regung meines Innern, und das war fürchterlich! Ich kannte alles, was ich getan hatte, denn nichts, gar nichts war vergessen, weil es überhaupt kein Vergessen gibt. Das, was wir Vergessen nennen, ist nur das einstweilige Verschwinden des einzelnen im Ganzen, in der Summe; aber dann, wenn dieses Ganze im Augenblick der Prüfung durchsichtig, klar und offenbar wird, muß das Verschwundene im Zusammenhang wieder erscheinen. Gäbe es doch eine Sprache, die wir aber alle auch sprechen und verstehen müßten, in welcher ich euch das alles begreiflich machen könnte, was zwischen dem Schuß und meinem Erwachen in mir und mit mir vorgegangen ist! Es beginnt ja schon jetzt, sich in mir selbst zu verwischen! Darum eben soll vorher gar nichts geschehen, und darum sollst du, Effendi, nicht einmal nach meiner Wunde sehen, bis ich nicht, so gut ich kann, davon gesprochen habe! Ich will es euch direkt und ohne Aufschub von dem ‚Ort der Sichtung‘ herüberbringen. Jeder Augenblick löscht mehr davon aus!“
Er hatte sehr langsam und in wiederholten Pausen gesprochen. Jetzt ruhte er sich länger aus. Wir waren still, denn jeder von uns hatte das Gefühl, daß laute Worte auf seinen Gedankengang störend wirken müßten. Als er sich erholt und gesammelt hatte, begann er wieder:
„Es ist mir unmöglich, euch das nun Folgende in der gewünschten, richtigen Weise zu sagen: Es gab keine sichtbare Waage, denn auch diese Waage war ich selbst. Der Gewogene, die Waage und der Wägende, das war in mir vereint. Ich stand vor Gericht und war zugleich der Ankläger und der Richter. Es wurde jeder, aber auch jeder meiner Gedanken in mir laut. Über einige wenige durfte ich mich freuen; die unendliche Zahl der andern aber machte mich erzittern! Es zeigte sich, daß jeder Ton, der über meine Zunge gegangen war, von ewiger Dauer sei. Der irdische Klang ist nur die Wirkung der Luftbewegung; ist sie vorüber, so ist er nicht mehr vorhanden. Aber der seelische Teil des Menschen, der in diesen Ton gekleidet wurde, um zu wirken, der ist unvergänglich und bleibt ihm angehörig für die Ewigkeit. Was
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