19 - Am Jenseits
daß wir unschuldig sind!“
„Ich sehe vielmehr, daß ihr schuldig seid. Es sind alle eure Flinten erst vor kurzem abgeschossen worden, und da du mir jetzt soeben bewiesen hast, daß dies nirgends anderswo geschehen ist, so ist es hier geschehen.“
Da lachte der Scheik höhnisch auf und rief ihm zu:
„Dummkopf! Hörtest du es denn diesem Effendi aus dem fernen Westen nicht an, daß er von vorn ganz ungefährlich tat, weil er dich von hinten packen wollte? Das ist ein schlauer Teufel, an den du nicht reichtest, auch wenn du das Gehirn von hundert solchen Kerlen, wie du bist, unter deinem Schädel hättest! Nun hat er dich gefangen, und ich habe recht behalten. Ich wiederhole, und ich mache keine Lüge: ihr habt vier oder fünf von den Soldaten erschossen! Ich gebe mein Wort darauf, und da ist es wahr!“
Der Ghani war nun still, und das genügte! Wir setzten uns zusammen. Die Haddedihn lauschten, damit ihnen kein Wort entgehen möge. Auch Hanneh hatte sich aus demselben Grund ganz in unserer Nähe niedergelassen. Ihr liebes, gütiges und dabei doch so kluges Gesicht strahlte vor Stolz, ihren Sohn zum ersten Male in der Dschema, der ‚Versammlung der Ältesten‘, nicht nur zu wissen, sondern sogar zu sehen und sprechen zu hören. Sein Vater war nicht weniger von Genugtuung erfüllt. Er selbst gab sich sehr ernst und würdevoll, was ihm, dem Jüngling, gar nicht übel stand.
Halef ergriff zuerst das Wort. Die Anwesenheit seiner Frau und seines Sohnes war für ihn eine sehr zwingende Ursache, eine seiner berühmten Reden zu halten. Ich kann sie hier übergehen und bringe nur den Schluß:
„Ihr wißt, wie gerne ich meine Peitsche sprechen lasse; aber nach dem, was wir von Ben Nur vernommen haben, bin ich gewillt, ihr von jetzt an weniger als früher das Wort zu geben, und hier, wo es sich um den Tod von soviel Menschen und auch außerdem um eine ganze Anzahl von Sünden und Verbrechen handelt, hat sie überhaupt zu schweigen. Eine Untersuchung ist nicht notwendig, denn die Taten liegen offen und deutlich vor unseren Augen. Es kann sich nur um den Tod handeln. Den haben sie mehr als verdient. Stimmen wir schnell ab! Das ist zwar nur eine Förmlichkeit, die aber doch erfüllt werden muß. Dein Urteil, Sihdi?“
„Ich will der letzte sein“, antwortete ich.
„So mag es nach der Reihe gehen. Khutab Agha, du sitzest neben mir. Also sag! Nicht wahr, den Tod?“
Der Perser sah in die Weite hinaus, als ob er von dorther einen Rat erwarte. Dann antwortete er:
„Nein!“
„Was – wie –? Nicht den Tod?“ rief Halef erstaunt.
„Nein!“
„Was sonst?“
„Ich begnadige sie. Sie mögen laufen! Ich weiß, daß sie der Strafe nicht entgehen werden, nicht entgehen können; aber ich will nicht derjenige sein, der das Tuch über ihnen zerreißt!“
„Das soll ich für Ernst nehmen?“
„Es ist mein Ernst. Und nun bitte ich dich, mich nicht weiter zu drängen! Ich habe die ‚Waage‘ kennen gelernt und will erst selbst besser werden, ehe ich über andere richte!“
„Ich kann dich nicht zwingen und wünsche nur, daß du es nicht bereuen magst. Jetzt du, Omar Ben Sadek!“
„Ich stimme für den Tod!“
Das sagte er fest und streng und weiter kein einziges Wort.
„Jetzt du, Kara Ben Halef, mein Sohn!“ fuhr der Hadschi fort.
Es war ein jugendlich heiles, gutes, freundliches Auge, welches Kara jetzt auf mich richtete. Daß er grad mich ansah, das war mir erklärlich, denn ich wußte ja, daß er schon als Knabe stets gesagt hatte, er werde sich alle Mühe geben, so zu sein wie Kara Ben Nemsi Effendi. Ich war selbst auch neugierig auf das Wort, welches wir aus seinem Mund hören würden.
„Ich begnadige sie auch!“ klang es mild und doch so fest.
„Allah! Du auch, mein Sohn?“ fragte Halef. „Wahrscheinlich hast du es dir nicht recht überlegt?“
„Ich habe es überlegt. Allah verlangt Liebe, und ich gebe sie; ich werde sie geben, so lange ich lebe!“
Da konnte ich nicht anders. Ich langte zu ihm hinüber und drückte ihm die Hand. Und von dem Platz her, wo seine Mutter saß, erklang der anerkennende Ruf:
„Kara, mein Sohn, säßest du jetzt nicht in der Versammlung der Ältesten, ich würde jetzt kommen und dich küssen!“
Er errötete, denn geküßt zu werden, wenn auch von der Mutter, ist etwas, wovon in der würdevollen Dschema nicht gesprochen werden darf.
„Nun habe ich mein Wort zu sagen“, erklärte Hadschi Halef. „Ich stimme natürlich für den Tod und füge hinzu,
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