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19 - Am Jenseits

19 - Am Jenseits

Titel: 19 - Am Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Zeichen hinein. Grad bis hierher ist die Kugel gedrungen. Hier an dem Wort der Liebe hat sie ihre Macht verloren. Ist das ein Zufall?“
    „Allah, Allah! Nein, gewiß nicht!“
    „Ich denke das auch! Und jetzt fallen mir meine Worte ein, welche ich dir über das Evangelium sagte, kurz, ehe du erschossen werden solltest. Kannst du dich besinnen?“
    „Nein.“
    „Ich versicherte dir, daß Gott, welcher von dir die Liebe zu den Feinden fordere, auch die Macht habe, dich grad durch diese Liebe zu retten. Ich sagte, sein Evangelium sei ein starker Schutz und Schirm selbst in der größten Todesgefahr, und vielleicht stehe dir die Hilfe näher, als du denkest!“
    „Ja, das ist sonderbar, Effendi!“
    „Nicht nur sonderbar! Ich sprach von dem Schutz des Evangeliums, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß dieses Buch der vier Evangelien in deiner Brusttasche steckte! Und dazu kommt noch mehr. Besinne dich nur! Als du davon sprachst, daß du mich im Jenseits um Verzeihung bitten werdest, sagte ich dir, daß ich dir schon verziehen habe, und fügte hinzu, daß Gottes Hand dich noch im letzten Augenblicke retten und sogar die Kugeln lenken könne!“
    „Ich besinne mich. Ja, so sagtest du wirklich!“
    „Und noch etwas! Der Scheik sagte: ‚Meiner Hand entkommt ihr nicht, so wahr euer Es Setschme, der Ort der Sichtung, nichts als Schwindel ist!‘ Du behauptest, auf Es Setschme und an der Waage der Gerechtigkeit gewesen zu sein; dieser Ort ist also für dich kein Schwindel. Und schau: Wir sind ihm entkommen, wir sind frei, während aber nun er unser Gefangener ist und uns ohne unsern Willen sicher und wahrlich nicht entkommen wird. Ist dieses wiederholte und erstaunliche Zusammenstimmen der gesprochenen Worte mit den späteren Ereignissen Zufall?“
    „Nein, nein!“ sagte der Perser.
    Und „Nein, nein!“ riefen auch Halef, Hanneh, Kara und alle, alle Haddedihn.
    „Entweder müssen wir uns für Propheten halten“, fuhr ich fort, „oder wir sind der Überzeugung, daß wir unter einer alliebenden und allweisen Führung stehen, welche für uns das Unheil in Heil, das Unglück in Glück verwandelt. Da wir aber nicht den Wahnsinn haben, zu behaupten, daß wir mit der Gabe der Weissagung ausgerüstet seien, so ist für uns nur die zweite Annahme möglich. Ich habe stets an Gottes Führung geglaubt; ich werde an sie glauben und mich ihr mit herzlicher Zuversicht anvertrauen, solange ich lebe, und ich bitte euch alle, dies auch zu tun! Wir stehen hier an einem Ort, den wir wohl nie vergessen werden, an der Stelle eines Ereignisses, welches nicht bloß für Khutab Agha, unsern Freund, sondern auch für uns alle von der größten Wichtigkeit ist. Wir haben hier abermals eine Kijahma, eine Auferstehung von den Toten, erlebt. Sie mag uns nicht nur auf unsere einstige Auferstehung von dem leiblichen Tod hinweisen, sondern uns zu einer Auferstehung schon jetzt erwecken, zu einem Erwachen alles dessen, was noch tot und fruchtlos in uns liegt, zu einem Lebendigwerden besonders der Liebe, die uns gegeben ist, nicht, daß wir sie in uns vergraben, sondern daß wir sie von uns hinausstrahlen lassen auf jedermann, auf Freund und Feind, der mit uns in Berührung kommt. Ihr habt durch den Mund des Basch Nazyr die Worte seines Engels gehört, welcher sagte, daß dies der Weg sei zum klaren Licht, zum wirklichen Leben und zur Seligkeit. Und in diesem Sinn wollen wir uns jetzt zusammensetzen, um Gericht zu halten, über die, welche sich so schwer gegen uns vergangen haben, daß sie nach dem Gesetz der Wüste nur den Tod erwarten dürfen!“
    Es antwortete hierauf niemand. Selbst mein kleiner, sonst so sprechfertiger Halef war still. Die allgemeine Stimmung zeigte überhaupt einen Ernst, ich möchte sagen, eine Feierlichkeit, welche in diesem Grad und bei diesen Menschen nur bei höchst seltenen Gelegenheiten zu bemerken war. Mochte die Quelle, aus welcher die Reden und Darstellungen des Persers geflossen waren, sein, welche sie wolle, der Eindruck war ein ebenso tiefer wie nachhaltiger. Der Orientale ist für ein solches Hereinragen des Übersinnlichen in das Sinnliche ganz besonders empfänglich, und ich bin überzeugt, daß ein Abendländer, der dem Basch Nazyr zugehört hätte, wohl schwerlich so unverständig gewesen wäre, über ihn und seine Erzählung zu lächeln. Ich bin ja auch kein Orientale, und das Leben hat mich gelehrt, allem, was mir unbekannt erscheint, zunächst kühl und forschend gegenüberzutreten; aber das, was wir

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