19 - Am Jenseits
Liebe lehrten, von Mohammed fort- und auf das hohe Minareh (Gebetsturm) dieser Liebe hinaufgeleitet worden, von welchem aus es nur ein Gebot und eine Stimme gibt, nämlich die heiligen Worte, welche wir von dir lernten: ‚Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm!‘ So hast du in uns den Geist der Selbstsucht, des Hasses, der Rache besiegt; so hast du aus uns Menschen gemacht, welche die Friedenspfade Allahs wandeln, und so bin auch ich durch dich aus einem nach Vergeltung schreienden, unerbittlichen Bluträcher ein gläubiger und folgsamer Anhänger des Gottessohnes geworden, der seine Lehre von der ewigen Macht der Liebe durch sein ganzes Leben, durch sein Leiden und dann durch seinen Tod besiegelt und bestätigt hat. Hanneh, die Beglückerin unseres Scheiks, ist es nicht allein, welche von einer Kijahma sprechen kann, sondern wir alle haben eine Kijahma gehabt, eine Auferstehung, eine Befreiung, eine Rettung aus dem Reiche des Hasses in das Reich der Liebe und des Friedens. Das, Effendi, wollte und mußte ich dir sagen, weil mein Herz mich dazu treibt, jetzt, wo wir auch eine Kijahma vor uns haben, welche der Schärfe deines Auges zu verdanken ist.“
„Und noch eine Frage“, fiel Hanneh wieder ein. „Besitzt Emmeh, die freundliche Spenderin deiner Behaglichkeit, auch einen so festen Glauben, grad wie du?“
„Ja“, antwortete ich.
„Hat sie ihn stets gehabt?“
„Sie hatte diesen Glauben schon, als ich sie kennen lernte; er lag in der Tiefe ihres Gemütes aufbewahrt.“
„Und da brachtest du den Sonnenschein, der ihn hervorrief an das Tageslicht? Du hast ihn gepflegt mit liebevoller Hand und nun deine Freude daran, wie an einem Baum, an dessen Früchten man sich doppelt erquickt, weil man ihn mit eigener Hand emporgezogen hat. Sihdi, wie gern, wie so gern möchte ich deine Emmeh kennen lernen! Ich würde ihr zuliebe alles tun; ich wäre sogar bereit, mich mit ihr, wenn sie es wollte, in einen Wagen eurer Eisenbahn zu setzen, um mit ihr so weit zu fahren, wie es ihr beliebt!“
„Ich aber mit!“ bemerkte Halef schnell. „Frauen bedürfen stets der Unterstützung und des Schutzes, und das freundliche Lächeln, welches sie dann dafür geben, ist dem eigenen mehr als einem fremden Mann zu gönnen!“
„Lächeln?“ fragte sie. „Ein freundliches Lächeln? Was meinst du damit, lieber Halef? Wer lächelt da?“
„Ihr!“
„Wir? Also auch ich?“
„Ja.“
„Warum?“
„Weil der – – – der Schutz – – – der Schutz, den sie bedürfen“, stotterte er verlegen. Dann wendete er sich rasch und in resolutem Ton an mich: „Sag du es ihr, Effendi! Ich habe mich verritten, und du verstehst dich auf eure Eisenbahnen doch besser als ich, der ich ja noch gar keine gesehen habe!“
Das Gesicht der ‚lieblichsten unter allen Lieblichkeiten‘ hatte einen ernsten, ja strengen Ausdruck angenommen. Nun sah sie mich erwartungsvoll an. Darum erklärte ich ihr, die von dem Lächeln ja gar nichts hatte erfahren sollen, an seiner Stelle:
„Ich habe mit Halef von unsern Eisenbahnen gesprochen, auf denen auch unsere Frauen und Töchter fahren dürfen. Ihnen gefällt es in diesen Wagen so sehr, daß sie vor Vergnügen freundlich zu lächeln pflegen.“
„Und das gefällt ihm wohl nicht?“ fragte sie. „Warum soll eine Frau nicht lächeln dürfen, wenn ihr etwas Vergnügen macht? Ich würde auch lächeln, unbedingt lächeln! Hast du vielleicht etwas dagegen, Halef?“
„Nein, gar nichts!“ antwortete er, sehr erfreut darüber, daß es mir gelungen war, dieser ‚lächelnden‘ Angelegenheit eine unverfängliche Wendung zu geben. „Ich würde im Gegenteil sehr glücklich sein, die Strahlen deines Lächelns auf meinem Angesicht zu fühlen; das weißt du doch! Doch seht, ob ich mich irre! Der vom Tode Errettete scheint sich zu bewegen!“
Er hatte recht, und das Erwachen des Mekkaners kam seinem Wunsch, den jetzigen Gesprächsgegenstand fallen zu lassen, sehr gelegen.
„Wasser!“ klang es wieder wie vorhin leise von den Lippen El Münedschis, welcher sich mit dem Oberkörper aufzurichten versuchte, wobei ihn zwei Haddedihn schnell unterstützten.
Es wurde ihm gegeben, und er trank diesesmal mit vollen Zügen. Dann saß er da, ließ seine herrlichen Augen im Kreise gehen, holte tief, tief Atem und sagte dann langsam und wie geistesabwesend, indem er die Hände faltete: „Die Menschen schlafen; wenn sie aber sterben, dann wachen sie
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