19 - Am Jenseits
auf!“
Dann schloß er die Augen und legte sich wieder nieder, wozu er keiner Unterstützung bedurfte. Seine Stimme hatte tief, aber doch sonor geklungen, wie von einer innern Resonanz verstärkt. Die von ihm gesprochenen Worte mögen einem Nichtkenner des Arabischen banal erscheinen; auf mich aber machten sie einen ungewöhnlichen Eindruckend daß dieselbe Wirkung auch auf die Haddedihn stattfand, belehrte mich ein leises, andächtiges „Amin!“ (Amen), welches die meisten von ihnen, darunter auch Halef, dazu sagten. Diese Worte waren einer der berühmten ‚Hundert Sprüche‘ Alis, des Kalifen. Warum der soeben vom Tode Erstandene sie ausgesprochen hatte, ob aus Überlegung oder infolge eines momentanen, innern Antriebes, das wußte ich nicht; aber sie paßten so genau zu der gegenwärtigen Situation und den durch sie hervorgerufenen Gefühlen, daß ich von ihnen nicht nur oberflächlich ergriffen wurde, zumal die Art und Weise, in der sie erklangen, eine so ungewöhnliche war.
Wir standen stumm im Kreise um den Münedschi und warteten, was er nun tun werde. Er lag einige Zeit bewegungslos, langsam und regelmäßig Atem holend. Dann richtete er sich wieder, ohne der Hilfe zu bedürfen, in sitzende Stellung auf, behielt aber die Augen noch geschlossen und sage, mit der Hand neben sich deutend:
„Setz dich zu mir!“
Wir wußten nicht, wen er meinte, aber es schien nicht nur mir, sondern auch allen andern ganz selbstverständlich zu sein, daß ich es war, der dieser Aufforderung folgte.
„Hast du genau gehört, was ich vorhin sagte?“ fragte er jetzt.
„Ja“, antwortete ich.
„Kennst du die Worte?“
„Es war der zweite von den hundert Sprüchen des Kalifen Ali Ben Abi Taleb.“
Er neigte den Kopf leicht nach meiner Seite, als ob er, nachdem ich schon gesprochen hatte, noch auf den Ton meiner Stimme lauschte. Dann sagte er, die Augen immer noch geschlossen:
„Der zweite? Das sagst du? Es stimmt! Ich weiß, daß du mehrere dieser Sprüche kennst, aber nicht ihre Reihenfolge. Wie kommt es, daß du jetzt so genau die Nummer Zwei angibst? Das wundert mich. Auch klingt deine Stimme anders als bisher. Die Erklärungen dieses Spruches aber kennst du nicht?“
„Ich kenne sie.“
Er neigte den Kopf noch weiter her zu mir, und sein Gesicht nahm während der folgenden Fragen und Antworten den Ausdruck immer größer werdenden Erstaunens an.
„Alle beide?“
„Die arabische und die persische.“
„Wer hat sie gegeben?“
„Der persische Dichter Reschid ed Din Abd el Dschelil, welcher den Beinamen Watwat bekommen hat.“
„Wie? Du kennst ihn so ausführlich?“
„Er lebte an den Höfen dreier Herrscher und starb im Jahre 578 (1182 n. Chr.) der Hedschra (Juni 622 n. Chr.).“
„Maschallah! Wie lautet die arabische Erklärung dieses zweiten Spruches des vierten der Kalifen?“
„So lange die Menschen in dieser Welt leben, sind sie ohne Sorge. Sie scheinen in einem so tiefen Schlummer zu liegen, daß sie darüber die Wonnen des Paradieses und die Flammenpein der Hölle vergessen. Aber wenn sie sterben, dann wachen sie auf von diesem Schlummer der Sorglosigkeit und bereuen ihre Saumseligkeit im Dienste dessen, der sie geschaffen hat, und machen sich selbst Vorwürfe über ihre Nachlässigkeit im Danke gegen den, der ihnen alles gespendet hat, aber erst dann, wenn die Reue zu spät kommt und die Selbstvorwürfe nutzlos sind!“
„Und die persische Erklärung?“
„Die Menschen sind während ihres Aufenthaltes auf dieser Erde unbekümmert um die Angelegenheiten der andern Welt. Erst wenn sie sterben, erwachen sie aus dem Schlafe der Gleichgültigkeit; dann erkennen sie, daß sie den Wert des Lebens nicht beachtet haben und nicht den rechten Weg gegangen sind, und bereuen ihre schlimmen Reden und verwerflichen Taten; aber dann hilft und nützt ihnen dies nichts mehr!“
Jetzt war seine ganze Körperhaltung und jeder Zug seines Gesichtes zum sprechendsten Ausdrucke aufmerksamen Lauschens geworden. Er wartete eine Weile und fragte dann:
„Bist du El Ghani, mein Wohltäter, von dem ich dachte, daß er jetzt bei mir säße?“
„Nein.“
„So sag, o sag, ob du mit diesen beiden Erklärungen einverstanden bist!“
„Sie haben meinen Beifall nicht, denn sie sind zu oberflächlich. Den tiefen Sinn des Spruches lassen sie unberührt liegen.“
„Und welches ist dieser Sinn?“
„Die Menschen schlafen; wenn sie aber sterben, dann wachen sie auf. Das heißt: Die Menschen leben wie
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