19 - Am Jenseits
eigenen Halt. Die Tatkraft schwindet; der Wille wird verzehrt; die Schärfe der Sinne nimmt ab, und an die Stelle fehlender Wahrnehmungen treten Halluzinationen, welche das, was man wünscht, vortäuscht und vorgaukeln. Darum ist diese Wüste das eigentliche Gebiet der Fata morgana, wie sie auch den Hauptbereich der verderblichen Sandstürme bildet, denen schon mancher einzelne Wanderer und manche vollzählige Karawane zum Opfer gefallen ist. Welches Entzücken dann der Anblick einer wirklichen, nicht vorgespiegelten Oase hervorbringt, das zu beschreiben, fehlen die Worte!
Und genau so, wie die Wüste ist, ist auch ihr Bewohner. In seinem Innern wohnt dieselbe Glut, unter welcher die Gebilde seiner Seele zu seltsamen, oft ungeheuerlichen, oft zauberischen, zuweilen auch wohl anmutigen Formen erstarren. Hilflos, hungrig und dürstend wie das steile Warr und der brennende Sand breitet sich sein Leben vom ersten bis zum letzten Tage dem Himmel entgegen, stets der Barmherzigkeit Allahs gewärtig. Daher seine tiefe Religiosität, deren äußerer Eindruck aber an tote, ermüdende Formeln gebunden ist. Die unerbittliche Strenge der Wüste macht ihn äußerlich ernst und innerlich hart; wie sie grausam ist gegen ihn, so ist auch er rücksichtslos gegen andere, ihm nicht nahestehende Wesen. Genau so unbeugsam, wie ihre Gesetze sind, besteht auch er auf der Unfehlbarkeit seiner Meinungen und auf der Überlegenheit seines Willens. Ihre Temperaturunterschiede sprechen sich in seinen Regungen aus; was ihn am Tage begeisterte, kann er am Abende schon kalt und verächtlich von sich werfen. Das Weib, welches er jetzt glühend liebt, kann er schon nach einigen Stunden durch die gesetzlich gültige Formel ‚Du bist geschieden‘ von sich jagen. Liebe, besonders Nächstenliebe, die zweite große Forderung der Christuslehre, kennt er überhaupt nicht, wie ja auch die Wüste nichts weniger als liebreich gegen ihn ist. Wie sie nichts gibt, sondern nur Opfer fordert, so ist auch er nur Egoist und will sogar den Himmel für sich allein haben. Hat sie den ganzen Tag gedürstet, so saugt sie den Tau der Nacht bis auf den letzten Tropfen auf; in derselben Weise unterwirft auch er sich geduldig allen Entbehrungen, um sich dann dem Genuß ohne Maß und Selbstbeherrschung zu ergeben. Da sein ganzes inneres Leben ein, nur von einigen Brunnen unterbrochenes, Wandern durch die Öde ist, schmückt er sich das Jenseits in den glühendsten Farben als paradiesische Oase aus, wo er ununterbrochen in Freuden schwelgt, von denen ihm das irdische Leben nur zuweilen einen leisen, kurzen Vorgeschmack bietet. Wie seine Leiden und Entbehrungen materielle sind, so sind auch die Ziele seiner Wünsche und Bestrebungen meist materieller Art; der Wüstensohn hat kein Gemüt; darum kann er sich weder ein irdisches Glück noch seine einstige Seligkeit rein herzlich denken. Der Boden seiner Seele gleicht der Felsen-, der Trümmer- und der Tiefsandwüste. Seltsam, verworren, abenteuerlich steigt es, oft mit elementarer Gewalt, von da unten auf; der heiße Smum (Wüstenwind) fegt darüber hin und wirbelt tödliche, wie von höllischem Feuer gefärbte Sandwolken vor sich her. Aber wie die Wüste ist auch diese Seele nicht ohne Tau, und wie sich unter der Wüstendecke genug befruchtendes Wasser befindet, nach welchem man nur zu bohren braucht, um es klar und hell hervorsprudeln zu sehen, so sind auch ihr die geistigen Vorbedingungen der wirtschaftlichen, ethischen und religiösen Gesittung nicht versagt. Wo aber sind die rechten Pioniere, welche den wirklichen, echten, selbstlosen Beruf in sich tragen, nach diesem Wasser zu bohren? Wer hier durch artesische Brunnen helfen will, der darf dies nicht von der Berechnung abhängig machen, zu welchem Prozentsatze sich das dabei angelegte Kapital verzinsen wird, auch muß er zunächst auf diejenige religiöse Aggressivität verzichten, welche dort den sofortigen, fanatischsten Widerstand hervorrufen und alles verderben, wenigstens das Gelingen auf unabsehbare Zeit hinausschieben würde. Es gibt Kapitalanlagen, welche der Herrgott in sein Buch einträgt, um erst am großen Tag der Abrechnung Soll und Haben zu vergleichen, und derjenige Mann oder dasjenige Volk ist der beste Missionar, welcher den Andersgläubigen mehr durch sein Leben als durch seine Lehren zu überzeugen sucht. Ein Gott wohlgefälliges und den Mitmenschen nützliches Leben ist die einzig richtige Vorbereitung des Bodens zu der Saat, die dann allerdings durch
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