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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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plötzlich seinen Kamm und zog ihn durch sein Bild »Obstschale, Kreuz As« – und die Linien sahen aus wie Holzmaserung. Picasso nahm das noch am selben Tag auf. Und wie immer konnte er es bald besser als der Erfinder selbst. So eilten die Revolutionäre der Kunst immer weiter, getrieben von der panischen Angst, vom bürgerlichen Publikum vollständig verstanden zu werden. Es dürfte Picasso beruhigt haben, wenn er gewusst hätte, dass Arthur Schnitzler am 8 . Februar in sein Tagebuch schreibt: »Picasso: die frühern Bilder außerordentlich; heftiger Widerstand gegen seinen jetzigen Kubismus.«
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    Mit knapper Not hat er überlebt. Und nun muss Lovis Corinth ordentlich bezahlen für sein Lebenswerk. Am 19 . Januar soll in der »Secession« am Kurfürstendamm 208 eine spektakuläre Ausstellung eröffnet werden, 228 Gemälde, Titel »Lebenswerk«. Heute, am ersten Tag des Jahres, erschöpft und verkatert auf seinem Kanapee in der Klopstockstraße 48 liegend, graut ihm ein wenig davor. Es ist kaum vier Uhr und schon wieder dunkel, vom Himmel kommt Schneeregen.
    Nun will also erst einmal die Rahmenhandlung Weber aus der Derfflingerstraße 28 ihr Geld für die Einrahmung des »Lebenswerkes« – und zwar stolze 1632 , 50 Mark. Und für den Empfang, den er zur Eröffnung gibt, braucht der Caterer, Adolf Kraft Nachfolger, Kurfürstendamm 116 , 200 Mark Vorkasse. Dafür wird geliefert: »1 Schüssel Zunge. 1 Schüssel Coburger Schinken mit Cumberlandsauce. 1 Schüssel Rehrücken mit Cumberlandsauce. 1 Schüssel Roastbeef mit Remoulade.« Lovis Corinth wird schon beim Lesen übel. Lebenswerk mit Cumberlandsauce. Ihm liegt noch der schlecht gekochte polnische Karpfen vom Abend zuvor im Magen. Wenn seine geliebte Charlotte weg ist, dann frisst er immer zu viel, das ist die Sehnsucht, er kennt das schon. Und so schreibt er einen Neujahrsbrief an seine Frau Charlotte, die fern in den Bergen durch den Schnee wandert: »Wer weiß, wie nun dieses neue Jahr gehen wird; schön war ja nicht das alte. Schwamm drüber.« Fürwahr. Corinth, dieser immer vor Kraft strotzende Maler, den es aus dem Hochbarock ins Berlin des frühen zwanzigsten Jahrhunderts hinübergefegt hatte, wurde von einem schweren Schlaganfall gebeutelt, seine Frau hatte ihn aufopfernd gepflegt. Als die »Lebenswerk«-Ausstellung geplant wurde, befürchteten alle, dass eben jenes bei Corinth abgeschlossen war. Doch er hatte sich zurückgekämpft ins Leben. Und auch an die Staffelei. Nun hingen überall in der Stadt die Plakate für die große Ausstellung, täglich 9 – 4 Uhr, Eintritt 1 Mark, darauf Corinth, ungläubig staunend über sich selbst, während Charlotte sich also fern von Corinth in Tirol ein wenig von Corinth erholte. Rechtzeitig zum Empfang ist sie zurück. Gut sehen Sie aus, Madame, sagt Max Liebermann zu ihr am 19 . Januar in der »Secession« bei der Eröffnung, den Rehrücken mit Cumberlandsauce in der rechten Hand. Gut sieht es aus, mein Lebenswerk, denkt sich Lovis Corinth, als er brummelnd durch die Ausstellungsräume stapft. Doch jetzt geht es weiter. Aber auch künftig bitte ohne diesen Kubismus.
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    Noch einmal kurz zu Freud in die Berggasse 19 . Der sitzt also in diesen Januartagen in seinem Arbeitszimmer an dem Abschluss seiner Arbeit über »Totem und Tabu«. Und es ist natürlich selbstverständlich, dass das Unbewusste mit aller Macht hineindrängt in dieses Buch über ethnologische Prinzipien von Tabubruch und Fetischisierung. Aber es scheint, als sei es ihm selbst gar nicht bewusst geworden: In jenem Moment jedenfalls, in dem ihn seine Schüler, vor allem der Zürcher C. G. Jung, Jahrgang 1875 , herausfordern und mit heftigen Vorwürfen überziehen, entwickelt Freud, Jahrgang 1856 , seine Theorie vom »Vatermord«. Jung hatte Freud im Dezember 1912 geschrieben: »Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, dass Ihre Technik, Ihre Schüler wie Ihre Patienten zu behandeln, ein Missgriff ist.« Er erzeuge so »freche Schlingel« und »sklavische Söhne«. Und weiter: »Unterdessen bleiben Sie immer schön oben als Vater. Vor lauter Untertänigkeit kommt keiner dazu, den Propheten am Barte zu zupfen.«
    Selten in seinem Leben hat Freud etwas so getroffen wie dieser Vatermord. Sein Bart wird in jenen Monaten viele neue graue Haare bekommen haben, er entwirft einen ersten Antwortbrief, den er nicht abschickt und den man erst nach seinem Tod in seinem Schreibtisch finden wird. Am 3 . Januar 1913 aber nimmt er doch seine ganze

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