Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
Vom Netzwerk:
Hoffnung.« Und an den Rand kritzelt er noch »mein Halt, mein Alles, wie immer«. Dann ab zum Postzug, der drei Stunden bis Gibraltar braucht. Und von dort dann weiter in die Berggasse 19 , Lou Andreas-Salomé c/o Prof. Dr. Sigmund Freud. Und Lou schreibt an den »lieben, lieben Jungen«, sie glaube, jetzt härter mit ihm sein zu können als damals. Und: »Ich glaube, dass Du leiden musst und immer wirst.« Ist das noch Sado-Maso oder schon Liebe?
    Mit Leiden und Briefeschreiben gehen die Tage so dahin. Manchmal arbeitet Rilke weiter an seinen »Duineser Elegien«, immerhin die ersten 31 Verse der sechsten Elegie gelingen ihm, doch er wird einfach nicht fertig damit, lieber geht er in seinem weißen Anzug und seinem hellen Hut spazieren oder liest im Koran (um sofort danach ekstatische Gedichte auf Engel und Marias Himmelfahrt zu schreiben). Man könnte sich wohlfühlen hier, fernab des finsteren Winters, und zunächst genießt es Rilke auch, dass hier die Sonne auch im Januar erst um halb sechs hinter den Bergen versinkt, dass sie vorher die so stolz auf ihrem Felsplateau thronende Stadt Ronda noch einmal warm aufleuchten lässt, »ein unvergleichliches Schauspiel«, wie er seiner Frau Mama schreibt. Die Mandelbäume blühen schon, die Veilchen, im Hotelgarten sogar die lichtblaue Iris. Rilke zückt sein kleines schwarzes Taschenbuch, bestellt einen Kaffee auf der Terrasse, schlägt die Decke um die Hüften, blinzelt noch einmal in die Sonne und notiert dann: »Ach wers verstünde zu blühn: Dem wäre das Herz über alle / Schwachen Gefahren hinaus und in den großen getrost.«
    ◈
    Ja, wers verstünde zu blühn. In München arbeitet Oswald Spengler, der dreiunddreißigjährige Misanthrop, Soziopath und Mathematiklehrer außer Dienst am ersten Hauptteil seines Monumentalwerkes »Der Untergang des Abendlandes«. Er selbst geht bei diesem Untergang mit gutem Beispiel voran. »Ich bin«, so schreibt er 1913 in den Notizen zu seiner Autobiographie, »der letzte meiner Art«. Alles gehe zu Ende, in ihm und an seinem Leib würden die Leiden des Abendlandes sichtbar. Negativer Größenwahn. Verwelkende Blüten. Spenglers Urgefühl: Angst. Angst davor, einen Laden zu betreten. Angst vor Verwandten, Angst, wenn andere Dialekt sprechen. Und natürlich: »Angst vor Weibern – sobald sie sich ausziehen.« Unerschrockenheit kennt er nur im Denken. Als 1912 die Titanic sank, erkannte er darin eine tiefe Symbolik. In seinen parallel entstandenen Notizen leidet er, lamentiert, klagt über eine schwere Kindheit und eine noch schwerere Gegenwart. Täglich neu notiert er: Es geht eine große Zeit zu Ende, merkt es denn keiner? »Kultur – noch letztes Aufatmen vor dem Erlöschen.« Im »Untergang des Abendlandes« formuliert er es dann so: »Jede Kultur hat ihre neuen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren.« Aber so eine Kultur gehe langsamer unter als ein Ozeandampfer, keine Sorge.
    ◈
    Seit Anfang des Jahres vertreibt der Verlag Carl Simon in Düsseldorf eine neue Original-Lichtbilder-Serie mit 72 farbigen Original-Glas-Platten, sieben Pappschachteln in einer hölzernen Kiste, mit einem 35 -seitigen Zusatzheft. Thema: »Der Untergang der Titanic«. Überall im Land wurden die Lichtbildervorträge gezeigt. Zuerst sieht man den Kapitän, das Boot, die Kabinen. Dann den nahenden Eisberg. Die Katastrophe, die Rettungsboote. Das sinkende Schiff. Es stimmt: Ein Ozeandampfer geht schneller unter als das Abendland. Leonardo di Caprio ist noch nicht geboren.
    ◈
    Franz Kafka übrigens, einer von denen mit großer Angst, wenn die Weiber sich ausziehen, hat erst einmal eine ganz andere Sorge. Ihm fällt siedendheiß etwas ein. In der Nacht vom 22 . zum 23 . Januar schreibt er seinen etwa zweihundertsten Brief an Felice Bauer und fragt: »Kannst Du eigentlich meine Schrift lesen?«
    ◈
    Kannst du eigentlich die Welt lesen? So fragen sich Pablo Picasso und Georges Braque und erfinden immer neue Chiffren, die die Betrachter entziffern sollen. Gerade haben sie der Welt beigebracht, dass man Perspektivwechsel malen kann – genannt Kubismus, nun, im Januar 1913 , gehen sie schon wieder einen Schritt weiter. Synthetischer Kubismus wird man das später nennen, weil sie nun Holzfaserfolie auf die Bilder kleben und allerlei anderes, die Leinwand wird zum Abenteuerspielplatz. Braque hatte gerade ein neues Atelier in Paris bezogen, ganz oben im Hotel Roma in der Rue Caulaincourt, da nahm er

Weitere Kostenlose Bücher