1913
Straßenverkehr.
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Oben am Fenster bei den Trojanowskis steht Stalin in einer seiner kurzen Arbeitspausen, schiebt den Vorhang zur Seite und blickt neugierig, aber doch auch verstört auf das Auto des Thronfolgers, das mit jäher Geschwindigkeit unter seinen Blicken dahinschießt. So hatte es auch schon Lenin gemacht, der immer bei den Trojanowskis unterschlüpfte, wenn er in Wien war. Irgendwo in der Stadt mustert in diesem Februar 1913 mit Kennermiene auch ein junger Kroate das vorbeipreschende Gefährt mit den goldenen Speichen. Er weiß ganz genau um die Qualitäten des Automobils des Thronfolgers, denn er ist Automechaniker und seit neuestem Testfahrer in Wiener Neustadt für Mercedes. Sein Name ist Josip Broz, er ist ein 21 -jähriger Draufgänger und Frauenschwarm und lässt sich aktuell von der großbürgerlichen Liza Spuner als Liebhaber aushalten und die Fechtstunden bezahlen – von ihren Geldgeschenken bezahlt er die Alimente für seinen frischgeborenen Sohn Leopard in der Heimat, dessen Mutter er kurz zuvor verlassen hat. Liza lässt ihn mit seinen Testwagen durch ganz Österreich fahren, um für sie neue Kleider zu kaufen. Als sie schwanger wird, verlässt er auch sie. So wird es dann immer weitergehen. Irgendwann kehrt er in seine Heimat, die jetzt Jugoslawien heißt, zurück und macht sie sich untertan. Josip Broz nennt sich dann: Tito.
In den ersten Monaten des Jahres 1913 also waren mit Stalin, Hitler und Tito, die zwei größten Tyrannen des 20 . Jahrhunderts und einer der übelsten Diktatoren, für einen kurzen Moment gleichzeitig in Wien. Der eine studierte in einem Gästezimmer die Nationalitätenfrage, der zweite malte in einem Männerwohnheim Aquarelle, der dritte fuhr sinnlose Runden durch die Ringstraße, um das Kurvenverhalten von Automobilen zu testen. Drei Statisten, so könnte man meinen, ohne eigenen Text im großen Schauspiel »Wien um 1913 «.
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Es war eisig kalt in diesem Februar, aber die Sonne schien, was selten war und ist im Winter in Wien, aber so leuchtete die neue Ringstraßenpracht im Schneeglanz noch mehr. Wien strotzte vor Kraft, war eine Weltstadt geworden, was man in der ganzen Welt sah und spürte, nur in Wien selbst nicht, dort hatte man vor lauter Lust an der eigenen Selbstvernichtung übersehen, dass man unversehens an die Spitze der Bewegung gerückt war, die sich Moderne nannte. Weil eben Selbstbefragung und Selbstzerstörung zu einem zentralen Bestandteil des neuen Denkens geworden waren und das »nervöse Zeitalter«, wie Kafka es nannte, ausgebrochen war. Und in Wien lagen die Nerven – praktisch, metaphorisch, künstlerisch, psychologisch – so herrlich blank wie nirgends sonst.
Berlin, Paris, München, Wien. Das waren die vier Frontstädte der Moderne 1913 . Chicago straffte seine Muskeln und vor allem New York mauserte sich langsam, übernahm aber erst 1948 endgültig den Staffelstab von Paris. Doch schon 1913 wurde dort das Woolworth-Gebäude fertig – das erste Gebäude der Welt, das den Eiffelturm überragte, die Grand Central Station, der größte Bahnhof der Welt, wurde eröffnet und die Armory-Show sorgte dafür, dass der Funken der Avantgarde auf Amerika überschwappte. Aber Paris war in jenem Jahr immer noch eine Klasse für sich, weder das Woolworth-Gebäude noch die Armory-Show oder Grand Central sorgten in den französischen Zeitungen für Aufregung – warum auch? Schließlich hat man Rodin, Matisse, Picasso, Strawinsky, Proust, Chagall »etc.etc.« – und alle arbeiten an ihrem nächsten großen Werk. Und die Stadt, auf dem Gipfel ihrer Manieriertheit und Dekadenz, verkörpert durch die Tanzexperimente um das »Ballets Russes« und Sergej Djagilew, zieht magisch jeden kultivierten Europäer an, vor allem die vier Überkultivierten mit den weißen Anzügen, also Hugo von Hofmannstahl, Julius Meier-Graefe, Rainer Maria Rilke und Harry Graf Kessler. Nur Proust wollte sich schon erinnern im Paris des Jahres 1913 , alle anderen wollten immer weiter nach vorn, aber anders als in Berlin inzwischen am liebsten nur noch mit dem gefüllten Champagnerglas in der einen Hand.
Im deutschsprachigen Raum explodierte Berlins Bevölkerungszahl, aber kulturell hat es seine allergrößte Zeit noch vor sich, es stürmt noch etwas ungestüm voran – doch dass das »Night-life von Berlin eine Spezialität ist«, das hatte sich schon bis Paris und zur Künstlerszene um Marcel Duchamp herumgesprochen. München hingegen war stilvoll und doch etwas zur Ruhe
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