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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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Geschenk bekommen hat: die ersten blauen Pferde des Blauen Reiters. Vielleicht spürt diese besondere Frau, die immer alles spürt, sogar noch mehr – dass aus der Idee dieser Postkarte in den Wochen danach im fernen Sindelsdorf ein noch viel größerer »Turm der blauen Pferde« entstehen sollte, ein Gemälde als Programm, ein Jahrhundertbild. Es wird später verbrennen, und es wird allein diese winzige Postkarte sein, die die Fingerabdrücke von Franz Marc und Else Lasker-Schüler bis heute bewahrt hat, die auf alle Ewigkeit von dem Moment erzählen wird, als der Blaue Reiter zu galoppieren begann.
    Gerührt sieht die Dichterin, wie der große Maler ihre Zeichen, den Halbmond und die goldenen Sterne, in sein kleines Pferdebild aufgenommen hat, ein Dialog beginnt, die Assoziationen, die Worte und die Postkarten gehen hin und her. Sie ernennt ihn zum imaginären »Fürsten von Cana«, sie ist der »Prinz Jussuf von Theben«. Schon am 3 . Januar schreibt Else zurück und dankt für ihr blaues Wunder: »Wie schön ist die Karte – ich habe mir zu meinen Schimmeln immer solche meiner Lieblingsfarbe gewünscht. Wie soll ich Ihnen danken!!«
    Als Marc sie dann per Postkarte sogar einlädt, mit nach Sindelsdorf zu kommen, sagt sie, völlig erschöpft von der Scheidung und von Berlin, sofort zu und steigt mit den Marcs in den Zug. Sie ist viel zu dünn angezogen, Maria Marc packt sie in eine mitgebrachte Decke. Es ist sehr gut möglich, dass sie im selben Zug sitzt, in dem Thomas Mann nach seiner verkorksten »Fiorenza«-Premiere zurückeilt in die heimische Familienburg. Das ist eine schöne Vorstellung, dieser Nordpol und dieser Südpol der deutschen Kultur des Jahres 1913 gemeinsam in einem Zug.
    Als die geschwächte Dichterin dann eintrifft in Sindelsdorf im Voralpenland, lebt sie zunächst tatsächlich bei Franz Marc und seiner Frau Maria, einer wuchtigen Matrone, unter deren Fittiche Marc schlüpfte, wenn die Winde zu rau bliesen. »Maler Marc und seine Löwin«, wie Else sie nannte.
    Sie hält es nur ein paar Tage im Gästezimmer des kinderlosen Paares aus, dann zieht sie weiter in das Sindelsdorfer Gasthaus, mit weitem Blick über das Moor bis zu den Bergen. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe, die Wirtin rät ihr besorgt zu einer Kneippkur und leiht ihr die entsprechenden Bücher. Das hilft alles nichts, Else Lasker-Schüler reist Hals über Kopf ab aus Sindelsdorf nach München, findet ein Zimmer in einer Münchner Pension in der Theresienstraße.
    Die Marcs reisen ihr nach und finden sie dort im Frühstücksraum, vor sich auf dem Tisch ganze Armeen von Zinnsoldaten, die sie wohl für ihren Sohn Paul gekauft hat, und wie sie dort auf dem blau-weiß karierten Tischtuch »heftige Kämpfe ausfocht – an Stelle der Kämpfe, die ihr Leben ihr ständig brachte«. Sie war in Kampfeslaune, wütend, bebend, nicht ganz bei Sinnen in diesen Tagen. Ende Januar, in der Galerie Thannhauser bei der Eröffnung der großen Franz-Marc-Ausstellung, lernt sie Kandinsky kennen, dann gerät sie in einen Clinch mit der Malerin Gabriele Münter. Die hatte etwas bemerkt, was Lasker-Schüler als Beleidigung von Marc auffasste, woraufhin sie durch die Galerie schrie: »Ich bin Künstlerin und lasse mir das nicht bieten von solch einer Null.«
    Maria Marc stand zwischen den keifenden Frauen, völlig überfordert, und rief nur »Kinder, Kinder«. Später wird sie klagen, Else Lasker-Schüler habe schon sehr viel »von der Pose der weltschmerzlichen Literatin an sich«, aber immerhin: »sie hat auch wirklich was erlebt im Gegensatz zu den jungen Weltschmerzlern in Berlin«. So also sieht die Welt des Jahres 1913 aus, von Sindelsdorf aus betrachtet.
    ◈
    Am 20 . Januar findet im mittelägyptischen Tell el-Amarna eine Fundteilung der neuesten, vom Berliner James Simon finanzierten Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft statt: Dabei wird die Hälfte der Funde dem Museum in Kairo zugesprochen, die andere Hälfte den deutschen Museen, darunter die »bemalte Gipsbüste einer Prinzessin der Königsfamilie«. Der Direktor der französischen Altertümerverwaltung in Kairo genehmigt die vom Grabungsleiter, dem deutschen Archäologen Ludwig Borchardt, vorgenommene Aufteilung. Borchardt allein ahnte sofort, dass er einen Jahrtausendfund in der Hand hatte, als ihm ein aufgeregter ägyptischer Grabungsgehilfe die Büste in die Hand drückte. Schon ein paar Tage später tritt die Gipsbüste ihre Reise nach Berlin an. Noch trägt sie nicht

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